22. Oktober 2011

Entwicklung und Armut aus afrikanischer Sicht

Von nst_xy

Bei der internationalen Tagung zum 20-jährigen Bestehen der „Wirtschaft in Gemeinschaft” (WiG) 1) Ende Mai in Brasilien referierte auch Genevieve Sanze. Die Gedanken der zentralafrikanischen Wirtschaftsdozentin zu Armut und Entwicklung stellen vorhandene Konzepte in Frage und eröffnen neue Perspektiven für die Beziehung zwischen Ländern und Völkern.

Uber „Entwicklung” spricht man in Afrika viel und oft, seit man Ende der 1940er Jahre auf Initiative der Vereinten Nationen Hilfsprogramme für jene Länder ausgearbeitet hat, die man im Vergleich zur westlichen Welt als zurückgeblieben einstufte. Dass man die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in einer einzigen Kategorie als „unterentwickelt” zusammenfasste und dabei grundlegende Unterschiede zwischen ihnen missachtete, verweist auf eine mögliche Unkenntnis ihrer Lebenswirklichkeit, aber auch auf eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber ihren Werten. Die TheTheorie der Unterentwicklung hatte großen Erfolg; auch die betroffenen Länder haben ihr entsprochen und die Gelder eingefordert.

Heute wissen wir, dass die Wirklichkeit weniger glücklich verlaufen ist als die Vorhersagen. Wir sollten daher die Theorien neu überdenken und dabei anspruchsvollere und anthropologisch komplexere Kategorien nutzen als die der materiellen Ressourcen. Man ist sich darüber im Klaren, dass man dafür auch den Maßstab der Rechte und Gesetze, der Gesundheit, Erziehung, Bildung und vor allem den der Freiheit anlegen muss.

Die Armut in Afrika ist multidimensional. Sie ist das Fehlen von materiellen und kulturellen Gütern, das die normale Entwicklung des Einzelnen bis hin zur Integrität der Person gefährdet.

Arm sein bedeutet, weder die eigenen biologischen Bedürfnisse noch die seiner Familie befriedigen zu können. Es heißt, in einem Zustand der ständigen Ausgrenzung und Unsicherheit zu leben, Hunger zu haben, ungebildet zu sein, nicht ärztlich behandelt zu werden, in Notunterkünften zu leben und unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten.

Zu den Zielen der „Wirtschaft in Gemeinschaft” (WiG) gehört es, eine menschliche Gesellschaft zu schaffen, in der keiner mehr Not leidet. Sie ist deshalb nicht in erster Linie eine Organisationsformel für soziale, ethisch-verantwortungsbewusste Betriebe, sondern ein Konzept für einen gerechteren und geschwisterlichen Humanismus, eine gerechte Beziehung zwischen Norden und Süden und die Geschwisterlichkeit unter Menschen und Völkern.

Die Armen, wie sie von der WiG gesehen werden, sind keine gesichtslose Masse von Bedürftigen, denen man helfen muss, um sein Gewissen zu beruhigen. Die Menschen, die von dieser Initiative erreicht werden, sind Personen, die Teil einer Lebensgemeinschaft sind. Deshalb können sie fast nicht anders, als in voller Würde auch ihre Bedürfnisse mitzuteilen, im Bewusstsein, dass Geben und Nehmen immer Liebe ist, nicht nur für den, der erhält, sondern auch für den, der gibt. Vor jedem Geben steht in der WiG deshalb das gemeinsame Leben, die Gemeinschaft, die Gegenseitigkeit. Diese Beziehung der Geschwisterlichkeit heilt die Situationen der Not.

Welche Kultur liegt nun dieser Erfahrung zugrunde? Fokolar- gründerin Chiara Lubich, die den Anstoß zur WiG gab, antwortete darauf: „Die Kultur des Gebens! Es geht nicht darum, sich von etwas zu lösen, um es wegzugeben. Es geht um die Liebe des Evangeliums, und das ist eine anspruchsvolle Liebe, die uns dazu bringt, das zu geben, was wir zu viel haben, und wenn das Herz es uns eingibt, auch das Notwendige. Denen geben, die nichts haben, im Wissen, dass es eine Investition ist, die reiche Frucht bringt mit hohen Zinsen, denn unser Geben öffnet die Hände Gottes: Die Vorsehung füllt uns die Hände mit überreichem Maß, so dass wir wiederum reichlich geben können, wieder empfangen und wiederum die unzähligen Bedürfnisse vieler Armer befriedigen können.”
Ich stelle hier (in dieser internationalen Begegnung; Anm. der Red.) nun bewusst die Frage:

Wer sind die Armen unter uns? Wer die Reichen? Haben wir etwas zu geben?

Sind wir bereit, aus uns selbst herauszutreten und auf den Nächsten zuzugehen, um ihm den Reichtum anzubieten, der wir selbst sind? Den Reichtum, den wir haben? Was bedeutet die Geschwisterlichkeit und Einheit zwischen Völkern und Personen?

Wenn wir ernst machen mit dem Charisma der Einheit, wird uns bewusst, dass Reichtum und Armut vor allem mit Beziehungen zu tun haben, und dass Reichtum immer dann positiv ist, wenn er mit anderen geteilt wird. Um aber zu einer solchen Revolution zu kommen, braucht es Menschen, die ein ausgeprägtes inneres Leben haben und von einem großen Glauben und grundsätzlichen Werten geleitet werden.

Man kann nicht nur mit Geld, wie viel auch immer, aus der Armut heraustreten, genauso wenig durch eine bloße Umverteilung der Reichtümer oder den Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur (Schulen, Straßen, Brunnen, usw.) und auch nicht dadurch, dass man die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Nord und Süd ausbaut. Das alles ist sicher notwendig, aber nicht ausreichend! Geschwisterlichkeit und Gemeinschaft werden dann erblühen, wenn wir fähig sind, authentische und tiefe Beziehungen zu leben zwischen Menschen, die zwar verschieden, aber dennoch gleich sind; wenn wir die Kategorien von „armen Völkern” und „reichen Völkern” überwinden; wenn wir entdecken, dass niemand auf der Welt so arm ist, dass er nicht auch Geschenk für mich sein kann, und wenn wir sehen und entdecken, dass die Armut der anderen auch einen Reichtum in sich birgt.

Nur wenn eine Person, die sich in Schwierigkeiten befindet, sich geliebt, geschätzt und würdevoll behandelt weiß, kann sie die innere Kraft entwickeln, aus der Armut herauszuwollen und sich auf den Weg machen. Und erst nach diesem Akt des freien menschlichen Willens, den jeder Mensch leisten muss, können Hilfen, Gelder, Verträge, wirtschaftliche Beziehungen als stützende Elemente und Mittel dazu beitragen, die ganzheitliche Entwicklung der Person und der Völker zu unterstützen.

1) Die NEUE STADT berichtete im Juni und Juli/August.

Wirtschaft in Gemeinschaft (WiG)
Eine Initiative, an der sich weltweit Unternehmer, Arbeitnehmer, Führungskräfte, Verbraucher, Anleger sowie Wirtschaftswissenschafter und -politiker beteiligen. Angesichts des globalen Armutsproblems rief Fokolargründerin Chiara Lubich die WiG im Mai 1991 in Sao Paulo/Brasilien ins Leben, mit dem Ziel zu einer Gesellschaft beizutragen, in der es – nach dem Vorbild der Urchristen von Jerusalem – keinen gibt, der Not leidet. (vgl. Apg 4,34).
www.edc-online.org/de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2011)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und Email finden Sie unter Kontakt.
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München