29. November 2011

Interview mit Hirnforscher Gerald Hüther

Von nst_xy

Wie Dünger im Gehirn

Was kann man tun, um schlauer oder besser als andere zu sein? Hand aufs Herz, die Frage stellen sich Eltern für ihre Kinder, Studenten an der Uni nicht nur vor dem Start ins Berufsleben, und dort angekommen schwingt sie erst recht immer mit. Überraschend die Antwort des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther: Nicht lernen und pauken heißt das Erfolgsrezept, sondern Begeisterung und soziale Einbindung. Nichts anderes bringt die Kümmerversion Hirn so sehr zum Wachsen.

Herr Hüther, ein Artikel über Ihre Tätigkeit als Hirnforscher trug den Titel „Liebe macht schlau”. Was steckt dahinter?
Hüther: Liebe ist ja die Verwirklichung dessen, was sich alle Menschen zutiefst wünschen: auf der einen Seite verbunden sein und gleichzeitig autonom und frei. Wenn diese beiden Grundbedürfnisse gestillt sind, bleiben Menschen offen – in ihrer Lernlust, Neugierde, Entdeckerfreude, Gestaltungslust, Beziehungsfähigkeit.

Einen solchen Ansatz würde man eher bei Sozialwissenschaftlern vermuten als bei Hirnforschern.
Hüther: Vielleicht. Aber das alles hat mit unserem Gehirn zu tun und mit zwei Grunderfahrungen, die jeder Mensch vor seiner Geburt macht und nie wieder vergessen wird: Aus der Erfahrung verbunden zu sein, wächst die Erwartungshaltung, dass es da draußen so weitergeht. Und aus der, dass man jeden Tag ein Stück über sich hinausgewachsen ist, jeden Tag ein wenig autonomer und freier geworden ist, wächst die Hoffnung, dass es Aufgaben gibt, an denen man wachsen kann. Alle Kinder wissen, ohne dass sie es ausdrücken können, wie es ist, wenn man in einer Beziehung zu anderen steht, wo man gleichzeitig wachsen und verbunden sein kann.

Aber das klappt ja nun nicht immer.
Hüther: Leider! Und wenn Menschen in ihrem Leben nicht weiter an diese Grunderfahrungen anknüpfen können, suchen sie Zuflucht in Ersatzbefriedigung. Dann gewinnen Dinge an Bedeutung, die sonst gar keine Bedeutung hätten. Und das wird im Gehirn verankert!
Jedes Mal, wenn man sich für etwas begeistert, gehen im Mittelhirn sogenannte emotionale Zentren an. An den Zellgruppen mit langen Fortsätzen werden so genannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Diese wirken wie Dünger auf die im Zustand der Begeisterung benutzten Netzwerke. Die aktivierten Nervenzellen bilden Eiweiße und daraus wieder neue Fortsätze. Begeisterung führt so zu strukturellen Anpassungen auf der Ebene der neuronalen Verarbeitung.
Begeistern kann man sich aber nur für das, was einem bedeutsam ist. Und für alle Menschen wäre es am allerbedeutsamsten, wenn sie dazugehören und gleichzeitig frei und autonom sein dürften. Wenn das aber nicht möglich ist, wird bedeutsam, was sie in ihrer Not als Ersatzlösung gefunden haben: andere zu mobben, Karriere zu machen, Geld anzuhäufen; all das wird dann so g klebrig, dass es gewissermaßen im Hirn festklebt.

Kommen denn alle Menschen mit den gleichen Anlagen zur Welt?
Hüther: Alle Menschen kommen mit sehr, sehr ähnlichen Grunderfahrungen zur Welt. Gleichzeitig haben alle genetische Programme, die dafür sorgen, dass im Gehirn mehr bereitgestellt wird, als tatsächlich gebraucht wird. Ein Drittel der Nervenzellen wird deshalb wieder weggeräumt, genauso auch Vernetzungen. Was übrig bleibt, ist eine Kümmerversion dessen, was hätte werden können. Was der betreffende Mensch nutzt, hängt davon ab, ob er offen bleibt. Und das kann er nur, wenn er sich zugehörig fühlt und das Gefühl hat, dass er wachsen kann. Dann bleibt auch im Gehirn viel mehr bestehen und kann sich wieder neu ausbilden als mit einer Ersatzbefriedigung.

Die Entwicklung des Gehirns hängt also von der sozialen Einbindung ab?
Hüther: Ja; wir können das Gehirn von anderen nicht verändern, sie nicht belehren oder unterrichten. Wir können sie nur einladen, ermutigen und inspirieren, eine neue Erfahrung machen zu wollen – mit sich selbst, der Welt, mit der Stadt und in der Stadt.

Müssten wir da nicht auch unser Schulsystem entsprechend anpassen?
Hüther: Im letzten Jahrhundert war es durchaus passend. Da haben wir auch keine Menschen gebraucht, die ihre Potentiale entfalten, sondern Menschen, die gut funktionieren, um Maschinen zu bedienen. Aber nun müsste man sich von einem Besitzstandswahrer, wie wir es im Augenblick sind, zu einem Potentialentfalter entwickeln.
Es gibt Schulen, in denen das umgesetzt wird. Auch Altersheime und Kommunen, in denen versucht wird, eine andere Beziehungskultur aufzubauen und zu leben. Es wird in Zukunft auch Städte geben, in denen versucht wird, eine freundlichere, einladende, einander ermutigende und inspirierende Kultur aufzubauen. Dort werden Menschen viel lieber leben, weil sie das Gefühl haben, dazuzugehören und gebraucht zu werden.

Das hört sich nach einem Traum an.
Hüther: Davon haben Menschen sicherlich schon immer geträumt. Und es ist spannend, dass man das jetzt auch neurobiologisch unterlegen kann.
Solange ein Kulturkreis nichts vom anderen wusste und man sich gegenseitig überfallen hat, musste man Kinder so erziehen, dass sie schießen konnten. Aber dieses Zeitalter ist vorbei. Wir sind in einer Welt angekommen, in der wir alle voneinander wissen und zunehmend erkennen, dass wir entweder zusammenfinden oder gemeinsam untergehen.
Wir stecken tatsächlich mitten in einer Umbruchphase. Und weil man nicht weiß, wie es weitergeht, wird zunächst das Alte und Bekannte noch kräftiger versucht. Das Neue setzt sich häufig erst in Form kleiner Modelle am Rande um. Wir brauchen in Zukunft individualisierte Gemeinschaften, wo jeder das Gefühl hat, dass es auch auf ihn ankommt und er mit seinen besonderen Talenten und Fähigkeiten beitragen kann, dass das Ganze gelingt. Gleichzeitig weiß aber auch jeder, dass es alleine nicht geht. In einer solchen Gemeinschaft haben wir wieder das Grundprinzip verwirklicht: gleichzeitig wachsen können und dazugehören dürfen. Das sind dann nicht nur demokratische Gemeinschaften; dort kann auch die Haltung der Liebe entstehen und sich festigen. Aber mit denen kann man keine Kriege führen und man kann sie auch nicht mehr manipulieren.

Könnten wir diesen Übergang irgendwie fördern oder kommt er ohnehin?
Hüther: An dieser Transformation kommen wir nicht vorbei, wenn wir auf dieser Erde überleben wollen. Aber ob das jetzt unsere Gesellschaft schafft oder eine andere, weiß man nicht, auch nicht wann. Wer es gerne fördern will, kann ja mit seinen jeweiligen Möglichkeiten dazu beitragen.
Das Tolle daran ist: Wir müssen es nicht machen. Wir können auch so weitermachen wie bisher. Dann haben wir eben noch ein paar Krisen; die Menschen werden noch gleicher. Aber irgendwann setzt es sich durch. Dieser sicherlich dramatische Wandel, der sich da vollziehen muss, darf auch nicht so schnell gehen, dass er uns die Seele zerreißt.

Noch einmal zum Gehirn: Der Wandel basiert auf Erfahrung und Begeisterung, die sich biologisch auswirken, oder?
Hüther: Genau; Erfahrungen, die wir im Laufe eines Lebens machen, werden viel tiefer im Hirn verankert als alles auswendig gelernte Wissen. Das führt dann dazu, dass bisweilen auch Einstellungen und innere Haltungen entwickelt werden, die ungünstig sind.
Aber die frohe Botschaft heißt, dass man das ändern kann. Dafür müsste man jedoch eine neuere Erfahrung machen können.

Und viele solche Erfahrungen könnten im Gehirn das Alte überschreiben?
Hüther: Genau; da werden neue Vernetzungen aufgebaut. Und es braucht dafür nicht einmal viele solcher Erfahrungen. Die Hirnforschung sagt, es ist nicht die Masse, es ist die Intensität der Erfahrung. Wenn einem etwas unter die Haut geht, dann werden Botenstoffe ausgeschüttet.
Die Hirnforschung sagt auch, es gibt im Grunde gar kein einzelnes Gehirn; alles, was wir da drin haben, ist uns von anderen Menschen mehr oder weniger zugeflossen. Allein könnten wir nicht mal lesen, schreiben, rechnen oder auf zwei Beinen gehen. Insofern sind wir alle Teil eines großen kulturellen Gedächtnisses. Und deshalb kommt es auch darauf an, dieses über viele Generationen hinweg gesammelte und erweiterte Wissen auch an unsere nächste Generation weiterzugeben. Wenn dieses Band der transgenerationalen Weitergabe von Erfahrung reißt, werden wir kulturlos. Und dann können Kinder nicht mehr richtig lesen und schreiben; sie können mit Goethe und Shakespeare nichts mehr anfangen. Das geht ziemlich schnell in ein, zwei Generationen. Dann ist, was Menschen vor uns Jahrhunderte lang erkämpft haben, plötzlich weg.
Und wenn sie zwei, drei Generationen nichts mehr erzählen würden von Jesus Christus, wüsste die nächste Generation nichts mehr von ihm. Was bleiben wird, ist das Spirituelle, die Suche des Menschen nach seiner Einbettung in diese Welt. Diese Suche danach, zu verstehen, wie man mit der Welt verbunden ist, hört nicht auf.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
Gabi Ballweg

Gerald Hüther
Hirnforscher, leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitätsklinik Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. studiert und geforscht hat Hüther in Leipzig, Jena und Göttingen. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potenziale, speziell im Bereich Erziehung und Bildung sowie auf der Ebene der politischen und wirtschaftlichen Führung.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2011)
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