19. September 2013

Zwischen den Stühlen

Von nst1

Politiker sind in ihrem Job mit Haut und Haar gefordert. Was bewegt sie, sich auf das mühselige Geschäft einzulassen?
Die 40-jährige Schweizer Nationalrätin Ada Marra sieht ihren Einsatz für das Gemeinwohl als Berufung.

Wie betrachte ich meinen politischen Gegner? Ada Marra sieht darin die entscheidende Frage für jemanden, der sich wie sie in der Politik engagiert. „Die Politik ist nicht gerade eine freundliche, unschuldige Welt. Aber ich kann dem anderen die Möglichkeit lassen, sich weiterzuentwickeln, sich zu verändern. Ich darf ihn nicht auf eine Karikatur seiner selbst reduzieren.” Das politische System der Schweiz sei darauf angelegt, einen Konsens, einen Kompromiss zu finden. Schon daraus ergebe sich die Notwendigkeit, immer mit Andersdenkenden im Dialog zu bleiben. „Anfangs hab ich den Fehler gemacht, bei Konflikten ironisch zu werden oder auf dem anderen herumzutrampeln. Aber das führt zu nichts. Auch in harten Auseinandersetzungen muss ich dialogbereit bleiben: im anderen nicht eine Ideologie oder eine Partei sehen, sondern den Menschen.”

Vier Jahre lang hat sich Ada Marra als Nationalrätin mit Migration beschäftigt, mit Flüchtlingen, Ausländergesetzen, Aufenthaltsgenehmigungen, Integrationsfragen. Ein Bereich, der sie nicht zuletzt wegen der eigenen Geschichte bewegt hat: Sie lebt in Lausanne und ist dort geboren; ihre Eltern aber waren aus der süditalienischen Region Apulien eingewandert. In der Schule erlebte sie große Unterschiede: „Klassenkameraden wohnten in Villen mit Swimmingpool, wir in ärmlichen Verhältnissen. So hab ich früh kapiert: Wir sind nicht alle gleich!” Kaum zwölf Jahre, entflammte aus der Empfindung von Ungerechtigkeit ihr Interesse für Politik: „Ich wollte etwas verändern: dazu beitragen, dass sich jede Person selbst entscheiden kann, was für ein Leben sie führen will.”
Später an der Universität engagierte sich Ada Marra in einer Studentenorganisation. „In eine Partei eintreten wollte ich nicht, um unabhängig zu sein.” Nach ihrem Abschluss in Politikwissenschaft wurde ihr jedoch klar, dass sich Ziele und Interessen besser in einer Gruppe vertreten lassen: „Allein kann ich die Welt nicht verändern. Also hab ich mich umgesehen, welche Partei am meisten zu mir passt.” Sie entschied sich für die Sozialdemokraten, weil sie zu dem Schluss kam, dass sie sich dort am Besten für die Schwachen einsetzen kann, und weil sie zwischen dem Christentum und den Werten dieser Partei Gemeinsamkeiten entdeckte.

2004 wurde sie Rätin in ihrem Kanton Waadt; seit 2007 ist sie im Nationalrat, der großen Kammer des Schweizer Parlaments mit 200 Mitgliedern. Ihr großes Anliegen ist die Einbürgerung von Ausländern: „Ich habe ein Projekt vorgeschlagen für die dritte Generation der Einwanderer. Das hat sehr viel Arbeit gekostet und unglaublich viele Gespräche mit Personen vom rechten Flügel. Schließlich haben wir einen Kompromiss gefunden, den zur allgemeinen Überraschung beide Kommissionen akzeptiert haben; allerdings musste ich dafür meine Idealvorstellungen zurückschrauben.” Jetzt ist das Parlament an der Reihe; ein endgültiges Ergebnis steht noch aus. Aber an diesem Konsens über Parteigrenzen hinweg beteiligt zu sein, ist für Ada Marra eine der schönsten politischen Erfahrungen bisher.
„Eine ganz große Enttäuschung dagegen war für mich der Minarettentscheid!” Das Verbot, Minarette zu bauen, wurde 2009 nach einer Volksabstimmung in die eidgenössische Bundesverfassung aufgenommen. „Ein Riesenschock! Ich hatte nicht gedacht, dass die Schweizer im religiösen Bereich so wenig offen sind. Aus meiner Sicht eine Reaktion der Angst und der Unkenntnis gegenüber dem Islam, wahrscheinlich auch der Unsicherheit in ihrer eigenen religiösen Identität. Denn wären sie sich ihres Glaubens und der eigenen Werte sicher, bräuchten sie andere Identitäten ja nicht auszuschließen.”

Seit 2011 ist Ada Marra Mitglied in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben. Auch da finden sich Bezüge zu Einwanderungsfragen: „Erteilen wir Arbeitserlaubnisse angesichts der Wirtschaftskrise in Europa für Portugiesen, Spanier, Italiener? Wie sieht es mit unserer finanziellen Großzügigkeit, unserer Solidarität aus? Wir sind ein reiches, wirtschaftlich und politisch solides Land. Wir sollten nicht die Grenzen schließen, sondern die Türen öffnen!”
Ada Marra steht zu ihrem Christsein, sitzt als Politikerin zuweilen aber auch zwischen den Stühlen: „Die Parteikollegen fragen: Wie kannst du nur katholisch sein? Und die Kirchenleute: Wie kannst du bei den Linken sein?” Immer wieder muss sie strittige Entscheidungen treffen, die ihr Gewissen belasten. „Das ist manchmal ein furchtbares Ringen! Vor etwa zehn Jahren ging es um die Verlängerung der Frist bei der Schwangerschaft, bis zu der eine Abtreibung möglich sein soll, wenn die Frau eine Notlage geltend macht.” Auch wenn sie als Christin persönlich gegen die Abtreibung ist, meinte sie schließlich, ihre Haltung nicht der gesamten Gesellschaft aufdrücken zu dürfen. Daher hat sie für eine Verlängerung der Fristenregelung gestimmt. „Denn die Gesetze sind nicht zur Erziehung der Bürger da. Ich bin ganz klar für Religionsfreiheit, stehe aber auch für einen Staat, der die Freiheit aller garantiert, ob sie nun christlich sind oder nicht.”

Einheit, Geschwisterlichkeit, Gemeinschaft sind in Ada Marras Augen wichtige Werte in der Politik. „Wenn wir die vergessen, wird das politische Handeln steril und die Gefahr wächst, die Gesellschaft zu spalten.“ Gerade der Aspekt der Brüderlichkeit hört oft an den Parteigrenzen auf. Der Nationalrat kommt pro Jahr in vier Sessionen für je drei Wochen zusammen. Wenn Ada Marra dann mit Räten aus dem rechten Parteienspektrum Mittagessen geht, wird sie zuweilen von Kollegen aus den eigenen Reihen schief angesehen.
Gegenüber Politikern, die sie vorher für scheinheilig gehalten und daher gemieden hatte, hat sich ihre Haltung beim „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“1) geändert. Bei verschiedenen Begegnungen haben sich dort Politiker unterschiedlicher Couleur darüber ausgetauscht, welche Werte sie verbindet und wie Abstimmungen in der Demokratie aussehen sollten – ob es immer Sieger und Verlierer geben muss oder ob nicht der Konsens erstrebenswert wäre, den alle mittragen können. „Was bedeutet also Einheit in der Demokratie? Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. – Schön war bei diesem Forum, dass wir auch über Persönliches sprechen konnten. Das hat Politik wieder menschlicher gemacht!“

Ihr politisches Engagement lässt Ada Marra kaum Zeit, eine eigene Familie zu gründen. „Die Sitzungen sind häufig über Mittag oder am Abend. Das wäre ein Problem, wenn ich Kinder hätte. Politik ist halt Berufung, Lebensaufgabe!” Klar, dass sich nicht jeder so stark einsetzen kann. Was erwartet sie von den Bürgern? „Man muss nicht einer Partei angehören”, antwortet die Nationalrätin. „Auch in Verbänden, Vereinen, Gemeinschaften kann man etwas für die Gesellschaft bewegen.” Schon sich die Mühe zu machen, ein Stück Papier aufzuheben und in einen Mülleimer zu werfen, kann eine politische Tat sein, sagt Ada Marra. „Auf diese Weise bestimmst du mit, in welcher Umgebung du leben willst. Es ist sozusagen immer auch etwas egoistisch, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Denn du gestaltest die Welt gemäß deinen Werten und Vorstellungen mit.”
Clemens Behr

1) s. Artikel „Geschwisterlich in der Politik“ unten

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2013)
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