17. Juni 2014

Das schöne Spiel und die unfaire Politik

Von nst1

Seit dem 12. Juni läuft in Brasilien die Weltmeisterschaft. Warum das fußballbegeisterte Volk das Ereignis nicht nur feiert, sondern zu Protestdemos auf die Straßen geht, wollten wir von den Kollegen unserer Schwesterzeitschrift wissen.

Bisher war das nicht nur Fußball-Experten klar: Wenn es ein Land gibt, das für Fußballbegeisterung steht, dann Brasilien. So ist die besondere Kreativität der afrobrasilianischen Fußballer, das „jogo belo“ (dt.: schöne Spiel), nahezu sprichwörtlich. Und die brasilianische Nationalmannschaft, die Seleção (dt.: Auswahl), konnte sich seit 1930 als einzige für alle Weltmeisterschaften qualifizieren; mit ihren fünf WM-Titeln gilt sie als erfolgreichste der Welt. Ganz zu schweigen von ihren Fans: Temperamentvoll untermalen sie das Spielgeschehen mit Samba-Musik auf den Rängen und gelten als Stimmungsgaranten bei jedem Turnier.

Dieses Bild ist nun ausgerechnet vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land ins Wanken geraten. Die fußballbegeisterte Nation machte plötzlich weniger durch ihre Fußballstars Neymar und Co oder die freudigen Erwartungen der Fans Schlagzeilen, als vielmehr durch Unruhen, Demonstrationen und Polizeiübergriffe. Feierstimmung wollte sich noch nicht einstellen.

Haben die Brasilianer ihre Liebe zum Fußball etwa verloren? „Keineswegs!“, unterstreicht Klaus Brüschke, Direktor unseres Schwesterverlags „Cidade Nova“, entschieden. „Die Proteste richten sich nicht gegen den Fußball, sondern gegen die FIFA, den Weltfußballverband und Ausrichter der ‚copa’ (Weltmeisterschaft), und gegen die Regierung.“ Das unterstreicht auch Thiago Borges von unserer brasilianischen Schwesterzeitschrift in seinem Beitrag „Ungebetene Gäste“: „Stellen Sie sich vor, Sie vermieten Ihr Haus an Fremde, die Ihre Kultur nicht kennen und sie auch nicht respektieren wollen. Aber Sie beschweren sich nicht, weil Sie hoffen, dass der prominente Mieter Ihnen Vorteile verschafft und alles letztlich Ihrem guten Ruf dient. Deshalb erlauben Sie Ihrem Gast auch, Wände einzureißen und Möbel umzustellen. Sie verderben es sich sogar mit Ihren Nachbarn, die Sie wegschicken müssen, weil sie dem Gast nicht gefallen.“

Borges kritisiert insbesondere die FIFA, deren Auftreten nicht nur ihn an das der Kolonisatoren erinnert:

Damit ein Land die Weltmeisterschaft austragen darf, müssen die Stadien den FIFA-Richtlinien entsprechen, Verkehrsanbindung und Infrastruktur ihren Auflagen. Während jedoch die FIFA nach Angaben ihres Generalsekretärs Jérôme Valcke Einnahmen in Höhe von vier Milliarden US-Dollar erwartet, muss das Gastgeberland die gesamten Ausgaben für den Stadienbau und die Infrastruktur tragen. Doch damit nicht genug!, entrüstet sich Borges. Damit der FIFA so wenig Risiko wie möglich bleibt, sichert sie sich durch Verträge ab: Das Gastgeberland musste sich verpflichten, alle Kosten zu tragen, falls Vorgaben und Normen nicht eingehalten werden.

Diese Praktiken sind mehr als fragwürdig. Erst recht in einem Land, das genug eigene Probleme hat. Klaus Brüschke erklärt: „Brasilien durchlebt eine Zeit rasanter Veränderungen: Es hat sich in den letzten Jahren zwar zur achtgrößten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt und 40 Millionen Brasilianer haben den Schritt aus der Armut geschafft. Trotzdem sind die sozialen Unterschiede noch riesig und wir stehen noch an zwölftletzter Stelle auf der Skala sozialer Ungleichheit.“

Nach Russland, Kanada, den USA und China ist Brasilien das flächenmäßig fünftgrößte Land und etwa 24-mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Mit 191,6 Millionen Einwohnern (22,5 Einw./km²) belegt es nach China, Indien, den USA und Indonesien ebenfalls Weltranglistenplatz fünf. Etwa 85 Prozent der Brasilianer leben in Städten, mehr als 50 Prozent in Großstädten. Seit der demokratischen Öffnung Ende der 1970er-Jahre, bei der Gewerkschaftsbewegung, katholische Kirche und soziale Bewegungen eine entscheidende Rolle spielten, und dem formellen Ende der Militärdiktatur 1985 hat das Land seine politischen Strukturen gefestigt. Von besonderer Bedeutung war die „Assembléia Constituinte“, aus der 1988 eine im internationalen Vergleich vorbildliche Verfassung hervorging. Die Zivilgesellschaft hat in Brasilien einige bemerkenswerte direkte Partizipationsmöglichkeiten, wie die Beiräte auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Die Art der direkten Bürgerbeteiligung beim Einsatz von öffentlichen Geldern ist zu einer internationalen Referenz geworden.

Fußball ist in Brasilien Volkssport. Schon die Kleinsten kicken mit zerfetzten Lederbällen, einer Kokosnuss, ausgestopften Socken, leeren Plastikflaschen oder einem alten Badeschlappen durch die Straßen, vor allem in den Elendsvierteln der großen Städte, den Favelas. Derzeit spielen über 5 000 Brasilianer als Profis im Ausland, mit steigender Tendenz. Wegen der geringen Bildungs- und Aufstiegschancen der Favelabewohner bleibt Fußball eine Möglichkeit, der Armut zu entkommen, wie auch Dante (FC Bayern) nach seiner Nominierung in den brasilianischen WM-Kader betonte. Fußball ist Hoffnungsträger – persönlich und gesellschaftlich. Staatspräsidentin Dilma Rousseff wollte der Welt ein effizientes Brasilien zeigen, das im Kampf gegen die Armut große Erfolge erzielt hat und dann die „copa das copas“, die Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften, das größte Fest aller Zeiten, organisiert. Die Ausrichtung der WM in diesem Jahr und der Olympischen Spiele 2016 galt als Anerkennung als Global Player.

Als im Juni 2013 Millionen den Konföderationen-Cup zum Anlass nahmen, auf den Straßen zu protestieren, hat das viele überrascht. Aber die Menschen sind nicht gegen die ‚copa’, sie klagen Korruption und Ämtermissbrauch an. Und sie stellen Fragen: Warum musste ein gerade renoviertes Maracanã-Stadion in Rio nochmals modernisiert werden? Statt 200 000 günstiger Stehplätze bietet es nun nur noch 70 000 Sitzplätze, die sich höchstens die Reichen leisten können. Warum musste in der Hauptstadt Brasilia das teuerste Stadion der WM gebaut werden, auch wenn dort kein Verein in der ersten oder zweiten Liga spielt? Warum mussten in Cuiabá und Manaus Stadien gebaut werden, die nach der WM niemand nutzen wird? Warum müssen die Straßenhändler, die traditionell im Umfeld der Stadien ihre Süßigkeiten und Getränke verkaufen und damit ihre Familien ernähren, auf Wunsch der FIFA mindestens zwei Kilometer Abstand von den Stadien halten, was ihre Existenz gefährdet? Und: Was bringt eine WM , wenn Kinder keinen Platz in der Schule bekommen oder Menschen sterben, weil sie in den Krankenhäusern Schlange stehen müssen und nicht rechtzeitig operiert werden, weil es zu wenig Plätze gibt?
Als Brasilien 2007 die Fußball- Weltmeisterschaft 2014 zugesprochen bekam, war das ein Fest.

Aber die Kosten dieser WM, die Auflagen der FIFA und die Arroganz der Verantwortlichen haben Distanz zwischen den fußballbegeisterten Brasilianern und der WM geschaffen.

Brasiliens Steuerzahler werden zur Kasse gebeten, aber Schulen und Krankenhäuser bekommen nichts ab. Deshalb protestieren die Brasilianer wie selten zuvor. Und das ist eine gute Nachricht! Nach Meinung vieler, wie auch des österreichisch-brasilianischen Amazonas-Bischofs Erwin Kräutler, kommen das WM-Turnier und Olympia zur rechten Zeit, damit der demokratische Reifungsprozess im Land beschleunigt wird. Und Demonstrationen sind wohl auch für die Zeit der WM nicht auszuschließen. Deren Ausgang ist leider völlig offen. „Man beginnt friedlich“, so Borges und Brüschke, „aber dann eskaliert es, weil ein paar Unruhestifter brutal zuschlagen. Manche vermuten, dass sie bezahlt werden.“ Diesen Ausschreitungen werde dann die ganze Aufmerksamkeit der Medien zuteil; die Motive der Proteste treten in den Hintergrund.

Schon Sotschi hat gezeigt, dass bei der Vergabe von weltweiten Sportereignissen manches zu überdenken ist. Und die WM 2022 in Katar ist bereits eine Bühne, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Brasilien kann nun beweisen, dass sich eine Nation ihr Selbstbewusstsein nicht von Gier und fremden Regeln nehmen lässt. So sehr dies alles ein Debakel für FIFA und Regierung ist, liegt in den Entwicklungen doch auch eine Chance: Weltmeisterschaften müssen neu gedacht werden. Sie können angesichts von Armut und leeren öffentlichen Kassen nicht weiterhin als Ausgabenfestival inszeniert werden. Sie müssen die vorhandene Infrastruktur nutzen und nur da erweitern, wo ihre nachhaltige Nutzung garantiert ist. Und sie müssen die Bevölkerung in die Planung einbeziehen, statt sie zu vertreiben.

Und wie geht es den Brasilianern kurz vor dem Anpfiff? „Wir sind verunsichert“, sagt eine Pädagogikstudentin aus Brasilia. „Es gibt sogar jene, die die Seleção nicht einmal mehr anfeuern wollen. Dass sie es durchhalten, kann man sich kaum vorstellen: Dafür haben wir Brasilianer Fußball und Nationalstolz zu sehr im Blut. Das ist wie Sambatanzen: Da kannst du nicht nur zusehen. Fußball ist und bleibt Volkssport für uns! Aber es gibt auch die Politik – und die spielt unfair! Daran muss sich etwas ändern – und dafür muss man auch einstehen.“
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2014)
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