18. Juni 2014

Schlag gegen die Demokratie?

Von nst1

Europäische Union und USA verhandeln über ein gemeinsames Freihandelsabkommen, TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership). Es wird mehr schaden als nutzen, warnen Nichtregierungsorganisationen und fordern, das Vorhaben sofort zu stoppen.  Sven Hilbig vom evangelischen Hilfswerk „Brot für die Welt“ erklärt die Zusammenhänge.

Was will die EU durch das Freihandelsabkommen mit der USA erreichen, Herr Hilbig?
HILBIG: Die EU hat gleich zu Verhandlungsbeginn deutlich gemacht, dass sie sich einen Zuwachs der Wirtschaftsleistung erwartet. Am Anfang kursierten Zahlen um 0,5 Prozent; Wirtschaftsinstitute sprachen von etwa 70 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Sieht man sich die Studien jedoch genauer an, wird deutlich, dass sich die Zahlen auf einen Zeitraum von zehn bis 14 Jahren beziehen. Für so geringfügige Zuwachsraten würden EU und USA aber keinen Verhandlungsmarathon hinlegen, wie sie es seit Sommer 2013 tun.
Das eigentliche Motiv für die transatlantische Freihandelszone ist ein ganz anderes. Karel De Gucht, EU-Handelskommissar und Verhandlungsführer, ließ Mitte Januar gegenüber der Süddeutschen Zeitung die Katze aus dem Sack: „Der große Kampf im Welthandel der Zukunft wird sich um Normen, Standards, Staatshilfen und Regulierungen drehen, nicht mehr um Zölle. Wir Europäer müssen global die
Standards setzen, damit es nicht andere für uns tun. Es ist überlebenswichtig, dass nicht China uns Standards vorgeben
kann.“ Der deutsche Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat diese Zielsetzung in der jüngsten TTIP-Publikation seines Ministeriums noch einmal bestätigt.
Die transatlantische Freihandelszone zielt also darauf, ein neues handelspolitisches Paradigma zu schaffen, um Vorteile im internationalen Wettbewerb zu sichern. Dieses Vorhaben ist eine Reaktion darauf, dass sich die Gewichte und Machtverhältnisse in der globalen Wirtschaft verschieben. Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien gewinnen wachsende Anteile am Welthandel, der Anteil der alten Industriestaaten nimmt dagegen ab. Diesen Prozess wollen EU und USA mittels TTIP zumindest bremsen.

Wieso fordern Sie nicht nur eine Änderung der Verhandlungen, sondern einen radikalen Stopp?
HILBIG: Unsere Forderung nach einer Aussetzung der Verhandlungen gründet auf verschiedenen Argumenten. Erstens sind sie intransparent, wie übrigens alle bilateralen Verhandlungen über Handelsabkommen, die die EU mit anderen Staaten führt. Zweitens wollen EU und USA sogenannte Investor-Staat-Klagen zulassen. Das bedeutet: Zukünftig könnte ein US-Unternehmen Deutschland oder andere EU-Länder verklagen, wenn sie Umweltauflagen oder andere Gesetze erlassen, die bei dem Unternehmen zu Gewinneinbußen führen.
Für viele Entwicklungsländer sind solche Klagen bereits Realität. Denn gerade die EU-Mitgliedsstaaten haben in der Vergangenheit schon Hunderte von bilateralen Investitionsabkommen mit Staaten aus dem globalen Süden geschlossen, in denen eine solche Klage von Unternehmen gegen Staaten möglich ist. Allein an Argentinien wurden schon über 50 Schadensersatzklagen gestellt!
Solche Klagen und die sie treffenden Sondergerichte sind ein rechtsstaatliches Unding. Denn sie stehen außerhalb der nationalen ordentlichen Gerichtsbarkeit und schränken den Gestaltungsspielraum von Staaten erheblich ein. Eine vom Volk gewählte Regierung muss die Freiheit haben, neue Regelungen zum Wohle ihrer Bevölkerung zu erlassen! Das ist Ziel und Zweck von Politik.

Was brächte das Abkommen Verbrauchern oder Produzenten in Europa noch für Nachteile?
HILBIG: Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur Prognosen abgeben, denn von offizieller Seite liegen uns die Verhandlungstexte nicht vor und die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Aber: Wir haben in Europa seit der großen Umwelt- und Entwicklungskonferenz 1992 in Rio zwei Prinzipien, von denen der europäische Umweltschutz geprägt ist: das Vorsorge- und das Verursacherprinzip. Das Vorsorgeprinzip bedeutet zum Beispiel, dass man vorab untersucht, was für ökologische Auswirkungen die Einführung neuer Technik und Standards hat.
Diese Regelungen sind US-Lobbygruppen ein Dorn im Auge, weil sie ihnen den Zugang auf den europäischen Markt erschweren. Da befürchten wir, dass diese Gruppen die hiesigen Zulassungsverfahren zur Kennzeichnung von Gentechnik-Lebensmitteln kippen könnten – durch das Abkommen selbst oder danach durch Investor-Staats-Klagen. Das würde dann bedeuten, dass im Chlorbad desinfizierte Hühnchen, Fleisch von Tieren, deren Futter mit Hormonen und Antibiotika versetzt wurde, und genetisch veränderte Pflanzen bei uns verkauft werden könnten.

Was hätte das Abkommen für Auswirkungen auf die Länder des Südens?
HILBIG: EU und USA, die über 40 Prozent des Weltsozialprodukts verantworten, wollen Standards für den Welthandel setzen, von denen sie sich Wettbewerbsvorteile versprechen. Die EU hat, nachdem die Verhandlungen in der Welthandelsorganisation WTO ins Stocken geraten sind, verstärkt bilaterale Abkommen mit Entwicklungsländern und Ländergruppen vereinbart, um so ihre Interessen peu à peu durchzusetzen.
Seit neuester Zeit führt die EU auch Verhandlungen mit anderen OECD-Staaten 1), wie Kanada und USA. Wir befürchten, dass bei diesen Verhandlungen die wirtschaftsmächtigsten Staaten Allianzen eingehen wollen, um so später auf multilateraler Ebene besser durchsetzen zu können, was ihnen bisher nicht vergönnt war.
Eine weitere Befürchtung bezieht sich auf die bereits erwähnten Investor-Staat- Klagen. Anstatt diese rechtsstaatlich zweifelhaften Sondergerichte in ihre Schranken zu weisen, würde die Zulassung dieser Klagen in den beiden größten Wirtschaftsblöcken diese Art von Investitionsschutz weiter stärken. Und dies geschieht genau zu einem Zeitpunkt, wo der Widerstand gegen diese Konzernklagen in den Ländern des Südens wächst. Südafrika hat im letzten Jahr zum Beispiel mehrere bilaterale Investitionsabkommen gekündigt. In diesem und im kommenden Jahr bietet sich die historische Chance, Hunderte solcher Abkommen zu kündigen und das Investitionsschutzregime weltweit zu überdenken und zu reformieren. 2014 bis 2015 ist ein wichtiges Zeitfenster, um die stark in die Politik eingreifenden Investitionsschutzabkommen weiter zurückzudrängen. Mit dem TTIP schlagen USA und EU jedoch genau die entgegengesetzte Richtung ein.

Dem Handelskommissar der EU wurde Geheimniskrämerei vorgeworfen: Die Öffentlichkeit werde weder beteiligt noch informiert. Hat sich daran etwas geändert?
HILBIG: Es gibt ein kleines Gremium, wo rund ein Dutzend Organisationen der Zivilgesellschaft mit einbezogen werden. Aber das ist bei Weitem nicht genug! Diejenigen, die Zugang haben zu den Verhandlungen, unterliegen einer absoluten Schweigepflicht. Sie haben Beobachtungsstatus, aber das hat nur Sinn, wenn sie auch weitergeben können, was sie beobachten, damit eine breite gesellschaftliche Debatte stattfindet. Bisher ist von den Verhandlungsdokumenten nur bekannt, was heimlich ins Netz gestellt wurde.
Wir bemängeln, dass in der europäischen Handelspolitik Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fallen! Nur bestimmte Interessengruppen haben Zugang: vor allem Unternehmensverbände und Vertreter großer Konzerne.

Ist die geheime Verhandlungsführung vor allem deshalb problematisch, weil die einzelnen EU-Staaten danach nichts mehr gegen das Abkommen unternehmen können?
HILBIG: Der Punkt ist ein anderer. Man wird sich hier erstmals bewusst, welche Auswirkungen Handelsabkommen auf Staaten und Bürger haben können.
Letztes Jahr hat die EU ein Handelsabkommen mit Peru und Kolumbien ratifiziert, später ein Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika. Die sind genauso intransparent gelaufen. Der Unterschied ist: Daraus entstehen keine Gefahren für Europäer, sondern für Peruaner und Kolumbianer. Dagegen ist bei dem Abkommen mit den USA der Verhandlungspartner sehr stark.
In Deutschland begann die Diskussion über Investor-Staat-Klagen erst mit dem schwedischen Energieversorger Vattenfall: Hamburg wollte vor dem Bau eines Kohlekraftwerks neue Umweltauflagen einführen. Daraufhin hat Vattenfall argumentiert, dass diese Kosten verursachen, die seinen Gewinn reduzieren, und Klage eingereicht. Die zweite Klage betraf den von der Regierung Merkel eingeleiteten Ausstieg aus der Atomenergie, woraufhin der Konzern seine Profitinteressen in Gefahr sah. Aber das waren Einzelfälle. Jetzt befürchtet man, dass sich Dutzende von US-Unternehmen genau ansehen, welche Gesetze hier erlassen werden.

… und eine Klagewelle gegen Bundes- oder Landesregierungen lostreten.
HILBIG: So ist es. Dabei muss es nicht immer zu einem Urteil kommen. Im ersten Fall hatte Vattenfall eine Klage auf Schadensersatz über 1,4 Milliarden Euro gegen das Bundesland Hamburg erhoben. Zum Schluss hat man sich geeinigt: Hamburg hat die Umweltauflagen teilweise zurückgenommen, bevor es zum Schiedsspruch kam. Das passiert oft. Die Folge könnte sein, dass Regierungen von vornherein keine neuen Umweltauflagen erlassen, weil sie Klagen befürchten, die sie sich nicht leisten können.

Auf was sollte die EU statt des Freihandelsabkommens setzen?
HILBIG: In die Verhandlungen wird viel Zeit investiert, die der EU woanders fehlt. Wenn sie verhandeln möchte, dann soll sie sich auf andere globale Herausforderungen konzentrieren, auf die gerechte Verteilung der Rohstoffe oder auf Klimaverhandlungen zum Beispiel, das würden wir natürlich unterstützen. Und wenn sie eine ökologisch qualifiziertere Handelspolitik anstreben möchte, soll sie das doch bitte auf WTO-Ebene machen, wo alle Staaten zusammensitzen.

Vielen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

1) OECD: Die 34 Mitgliedsstaaten der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ gelten als entwickelte Länder.

Sven Hilbig,
geboren 1966 in Bremerhaven, ist Referent für Welthandel und globale Umweltpolitik beim Hilfswerk „Brot für die Welt“ in Berlin. Seine Spezialgebiete sind Rohstoffpolitik, Freihandelsabkommen und Biopiraterie.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2014)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München