20. Mai 2015

Heute so prächtig wie damals

Von nst1

Am 1. Mai wird die Wiener Ringstraße 150 Jahre alt. Ausstellungen, Konzerte, Führungen und Events greifen diesen Geburtstag auf. Sogar eine offizielle Homepage zum Jubiläum gibt es, auf der das Wiener Tourismusbüro schwärmerisch der Eröffnung des „schönsten Boulevards der Welt“ gedenkt. 1) Barbara Binder. Historikerin, lebt in unmittelbarer Nähe der Wiener Prachtstraße und nimmt uns mit auf eine Tour.

Die Ringstraße 2015: Autos, Straßenbahnen, Fiaker, Menschen zu Fuß, auf dem Fahrrad, Touristen, Studenten und Studentinnen, Parks, Plätze, Cafés, Hotels. Der Ring ist heute immer noch eine Prachtstraße: Bestens geeignet für Großveranstaltungen wie den jährlich stattfindenden Wien-Marathon, Aufmärsche, Demonstrationen. Hier können Wien-Besucherinnen und -Besucher elegant in diversen Ringstraßenhotels nächtigen. Es gibt Kaffeehäuser, Bars, Restaurants und Geschäfte aller Art. Und wer sich vom bunten Treiben ein bisschen ausruhen möchte, setzt sich in den Burggarten oder den Rathauspark. Die Grünflächen dienten wie alles andere am Ring einst Repräsentationszwecken und gehörten zum städteplanerischen Konzept.

Den Namen hat die Straße von ihrer Form: Mit einer Gesamtlänge von etwas mehr als fünf Kilometern umschließt sie – beinahe wie ein Ring – die Innenstadt, den 1. Wiener Bezirk. Wer genauer hinschaut, kann jedoch erkennen, dass die Ringstraße keineswegs rund ist, sondern aus völlig geraden Teilabschnitten besteht. Dass die so lang sind, wie zu ihrer Bauzeit eine Gewehrkugel fliegen konnte, unterstreicht die militärische Absicht des Baukonzepts. Aber auch die Breite der Straße – 57 Meter! – hat einen „politischen“ Hintergrund: Im Falle einer Revolution (dem Kaiser lag der Aufstand von 1848 mit der Forderung nach einer Verfassung noch schwer im Magen) wollte man verhindern, dass Straßenbarrikaden errichtet werden. Jeder Längsabschnitt trägt einen eigenen Namen: Opernring, Kärntner Ring, Burgring, …

Im Mittelalter schützte an dieser Stelle eine dicke Stadtmauer mit vorgebauten Wehrterrassen die Stadt. In Friedenszeiten und bei schönem Wetter gingen im 19. Jahrhundert die Wiener nach Lust und Laune darauf spazieren. Spätestens nach der Eroberung Wiens durch Napoleon musste man aber die Vorstellung, dass dieses Gemäuer Schutz und Sicherheit bieten kann, endgültig aufgeben. Modernisierung war angesagt. Im Dezember 1857 erteilte der damals 27-jährige Kaiser Franz Joseph I. den Befehl zum Abriss. Das war die Geburtsstunde der Ringstraße, die, noch unvollendet, 1865 feierlich eröffnet wurde. Für die nächsten 50 Jahre blieb sie die größte Baustelle Europas.

Ein modernes städtisches Baukonzept stillte unterschiedlichste Bedürfnisse. Die Staatsverwaltung brauchte öffentliche Gebäude; man plante ein neues Rathaus, den Justizpalast und das Parlament.

Das Kaiserhaus benötigte Repräsentationsräume, aber auch Platz für diverse Sammlungen; dafür erweiterte man die Hofburg; Kunsthistorisches und Naturhistorisches Museum entstanden. Künstler forderten größere Aufführungsstätten: Burgtheater und Staatsoper. Und das jüdische Großbürgertum wollte – entsprechend seinem gesellschaftlichen Aufstieg – standesgemäß wohnen.

Die für die Öffentlichkeit bestimmten Monumentalbauten finanzierten sich durch Grundstücksverkäufe. Und es ist kein Zufall, dass die Freigabe des Grundstückserwerbs für Juden 1860 mit dem Verkauf der Parzellen am Ring zusammenfiel. Wohlhabende Fabrikbesitzer und Bankiers sicherten sich mit dem Bau eines Ringstraßenpalais einen Platz in der Wiener Gesellschaft. Eine kleine Elite konnte so ihren Erfolg und Aufstieg zeigen. Die prachtvollen Palais beherbergten aber nicht nur den Hausherrn mit seiner Familie in der Beletage. Verwandte und Mieter lebten unter demselben Dach; Geschäfte, Banken, Kaffeehäuser zogen im Erdgeschoß ein. Das Glück währte mitunter nur kurz: So bewohnte der Eigentümer des Palais Epstein dieses nicht einmal zwei Jahre. Der Börsenkrach 1873 beendete oft sehr abrupt so manchen Aufstieg eines „Ringstraßenbarons“.

Der gewaltige Erneuerungsschritt bedeutete für Wien nicht nur bauliche Veränderung, sondern ist gleichzeitig Abbild einer sich wandelnden Zeit: Verlorene Schlachten senkten die militärische Bedeutung, die Macht des Adels und des Kaiserhauses. Die Zeit des liberalen Bürgertums begann. Kunst gewann an Bedeutung. All das findet sein Abbild am Ring, wie die Wiener die Straße salopp nennen.

Wer in die Atmosphäre der Ringstraße eintaucht, lernt alt-österreichische Geschichte kennen, geht an der frischen Luft spazieren und kann dabei Hunderte berühmte Bauwerke betrachten. Die Auswahl ist riesig und bietet kunsthistorische Abwechslung. Denn: Gebaut hat man im Stil des Historismus und Bauelemente aus Gotik, Renaissance und Barock übernommen, variiert und neu arrangiert. Mit den unterschiedlichen Stilen wollte man gesellschaftliche Ansprüche, Herrschaftsabsichten und politische Befindlichkeiten deutlich machen. Weil die Grundlagen demokratischen Denkens aus dem antiken Griechenland stammen, sieht etwa das 1883 vom dänischen Star-Architekten Theophil Hansen fertiggestellte Parlament aus wie ein griechischer Tempel. Hingegen errichtete der Wiener Dombaumeister von St. Stephan, Friedrich Schmidt, das Rathaus (1872 – 1883) primär im Stil der Gotik, weil das Bürgertum am Ende des Mittelalters an Bedeutung gewonnen hatte. Barockisierende Renaissance wählte man als Hauptstil des Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museums, weil in diesen Epochen Kultur und Wissenschaft ein großer Stellenwert zukam.

Das Haus Habsburg, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinem Untergang entgegensteuerte, wollte mit dem geplanten „Kaiserforum“ Größe und Bedeutung demonstrieren.

Ausgehend von der Hofburg auf der Innenseite der Ringstraße wurde ein über die beiden sich gegenüberstehenden Museen bis zu den Hofstallungen (heutiges Museumsquartier) reichender Bau geplant. Aber weil 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach und die 1918 ausgerufene Republik kein Interesse an der Fortführung hatte, blieb dieses Bauvorhaben unvollendet. Dem royalen Gedanken steht das „Bürgerforum“ mit den Institutionen des Volkes (Rathaus, Parlament, Universität) gegenüber.

Gebäude des Wiener Jugendstils, die moderne Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, findet man nur in der zweiten Reihe der Ringstraße, etwa das berühmte Postsparkassengebäude (1904-1912) von Otto Wagner. Das liberale Großbürgertum baute mit Blick in die Zukunft – ohne Schnörkel, schlicht und funktional; das Kaiserhaus wollte damit nichts zu tun haben. Auch die Secession (1897/98 von Josef Maria Olbrich), ein Ausstellungsgebäude für Künstler, befindet sich aufgrund der „modernen“ Bauweise nicht am Prachtboulevard, sondern am Beginn der Linken Wienzeile.

Der Kaiser, berühmte Architekten, Künstler, die eleganten Eigentümer der Palais, die Ziegelbarone – sie sind bis heute bekannt. Unbenannt und unbekannt sind die Arbeiter, die tatsächlich den Bau durchführten. Das war schwere körperliche Tätigkeit und – es kam immer wieder zu tragischen Unfällen: Sie stürzten von Baugerüsten oder verunglückten bei Transporten mit den schweren Ziegellasten. Die rege Bautätigkeit lockte Menschen von überall nach Wien. Beispielsweise kamen viele Tschechen, um in den Ziegelfabriken ihr Glück zu suchen und gingen als „Ziegelböhm“ in die Geschichte ein. Sie lieferten das Grundmaterial für den Ringstraßenbau. Ausgebeutete Bauarbeiter und arme Tagelöhner sind die Kehrseite der schönen Fassade. Und wer kann darin nicht auch Parallelen zu heute entdecken, wo im Baugewerbe immer noch eine hohe Anzahl ausländischer Arbeiter beschäftigt ist, die bereit sind, unterhalb der Mindeststandards zu arbeiten? Das Elend der Ringstraßenarbeiter hat aber auch beigetragen, dass sich die politischen Verhältnisse in Österreich langsam veränderten. Die Gründung der Sozialdemokratie 1888 hängt eng mit dem Bau des Prachtboulevards zusammen.

Und wie feiert die Ringstraße ihren Geburtstag? Viele Bücher und Sonderausstellungen bieten Wissenswertes über Menschen und Baupläne der Ringstraßenära. Die Wiener Museen haben Ausstellungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zusammengestellt. Zahlreiche Exponate zeugen vom Leben der großbürgerlichen Gesellschaft und zeigen die Glanz- und Schattenseiten dieser Zeit. Besondere Führungen erlauben einen Blick hinter die Kulissen.1)

Aber wer wirklich mitfeiern will, muss die Ringstraße selbst besuchen – und das kostenlos! Denn in diesem großen Freilichtmuseum mitten in der Stadt muss man keinen Eintritt zahlen. Und das Beste: Geöffnet ist es rund um die Uhr!
Barbara Binder

1) ringstrasse2015.info

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2015)
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