15. Juli 2015

Kompetenz und Herzblut

Von nst1

Offener Brief an Linn Selle, „Frau Europas“

Sehr geehrte Frau Selle,

Europa hat ein Problem. Über Griechenland, die Ukraine und die Flüchtlingsströme hinaus hat die Europäische Union ein existenzielles Problem: Von der Idee eines geeinten Europas ist kaum noch etwas zu spüren!

Für Sie steckt der Kern des „Projekts“ Europa in der grenzüberschreitenden Solidarität, dem Einstehen füreinander. Stattdessen leben nationalistische Tendenzen auf: Wir-Gefühl? Fehlanzeige! Nationale Klischees sind wieder salonfähig, haben Sie bei der Verleihung vom „Preis Frauen Europas“ beklagt. „Wir in Deutschland haben uns komfortabel in der Schwarzen Null eingerichtet, egal, wie es unseren Nachbarn geht.“ In Ihren Augen der Rückzug in eine nationale Biedermeier-Haltung.

Einmütig zusammen standen die EU-Länder einzig nach dem Anschlag auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion in Paris. Aber wie krank ist Europa, wenn es erst ein Krisenszenario von außen, einen gemeinsamen Feind braucht, um zusammenzurücken?

Viele EU-Bürger haben den Eindruck, so brachte Martin Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, bei der Preisverleihung auf den Punkt, „durch eine Befreiung vom ‘Brüsseler Joch’ würde Vieles besser werden. Als sei die Abkehr vom vereinten Europa geradezu ein Akt der Emanzipation, der uns zu freieren Bürgerinnen und Bürgern machte.” Die langfristige Vision ist abhanden gekommen, so Ihre Diagnose. Europas Politik bleibt den Bürgern eine Debatte – geschweige denn eine Antwort – schuldig, wo es denn hingehen soll.

Sie, Frau Selle, sind schon in einem Europa der gemeinsamen Währung und der offenen Grenzen aufgewachsen. Auch Kriminalität und Terroranschläge rechtfertigen es für Sie nicht, diese Errungenschaften anzutasten: ein Rückschritt ins vergangene Jahrhundert! Zusammenarbeit statt Abschottung ist dagegen Ihr Credo, Präventionsarbeit statt Schlagbäume.

Ihr Ansatz: EUROPOL ausbauen, eine europäische Staatsanwaltschaft einführen, Geheimdienste koordinieren; Prävention, damit Jugendliche sich nicht radikalisieren. Damit Europa als politischer Akteur ernstgenommen wird, braucht es eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Stimme.

Sie haben bei den Jungen Europäischen Föderalisten mit Teamgeist und Herzblut dafür gekämpft, dass junge Leute den europäischen Einigungsprozess aktiv mitgestalten. Prominentes Beispiel war 2014 eine Petition vor der Europawahl: Sie erreichten, dass ARD und ZDF das Fernsehduell zwischen den europäischen Spitzenkandidaten Juncker und Schulz nicht nur auf dem Spartenkanal Phoenix, sondern im Hauptprogramm sendeten.

Uns begeistert, wie Sie sich mit Mut, Kreativität und Hartnäckigkeit für ein Zusammenwachsen Europas einsetzen und neue Impulse geben. Danke, dass Sie über die Welt der Politik hinaus mit Fachkompetenz, Leidenschaft und Charisma Hoffnung auf ein anderes, vielfältiges Europa verbreiten: demokratischer, offener, wirksamer! Denn damit geben Sie jungen wie älteren Europäern neues Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Linn Selle, 28. In Havixbeck bei Münster geboren, studierte sie Politikwissenschaft in Bonn und Paris. Selle war ab 2010 ehrenamtlich im Bundesvorstand der „Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland“, seit 2014 auch der „Europäischen Bewegung Deutschland”. Diese verlieh ihr Anfang 2015 als bisher jüngster Frau den “Preis Frauen Europas – Deutschland”. Selle wurde im Februar Referentin beim Verbraucherzentrale Bundesverband und promoviert bei der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2015)
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