19. November 2015

„Optimistisch bin ich nicht, aber voller Hoffnung!“

Von nst1

Die Krise in Griechenland hat die Nachrichten über Wochen bestimmt. Auch wenn sie nun ein wenig in den Hintergrund gerückt ist – entspannt ist die Lage noch lange nicht. Das sieht auch Ioanna Zacharaki so.  Die Griechin lebt seit 1981 in Deutschland. Seit über 15 Jahren politisch aktiv, setzt sie sich derzeit für einen verlässlichen Dialog zwischen Griechenland und Deutschland ein.

Frau Zacharaki, Sie sind Griechin und leben seit Jahren in Deutschland. Erzählen Sie uns von Ihren griechischen Wurzeln?
ZACHARAKI: Meine Familie kommt aus einem kleinen Dorf im Pindosgebirge in der Mitte Griechenlands. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben mich dazu erzogen, auch dem Schwachen gegenüber Respekt zu zeigen. Ihnen verdanke ich meine soziale Sensibilität. Die Bindung in unserer Familie war eng, auch als meine Mutter zum Arbeiten nach Deutschland ging. Da war ich acht und fand den Entschluss meiner Mutter abenteuerlich, spannend, aber auch verheißungsvoll. Unser Vater blieb noch bei uns drei Töchtern und folgte meiner Mutter acht Jahre später.

Sie selbst blieben aber noch?
ZACHARAKI: Ja. Ich war 16, beendete erst noch die Schule und sorgte für den über 90 Jahre alten Großvater. Erst nach dem Abitur kam ich zum Studium her.

Inzwischen arbeiten Sie als Referentin für Integration und Interkulturalität, engagieren sich politisch und jetzt auch für Ihre Landsleute.
ZACHARAKI: Vor dem Hintergrund meiner eigenen Lebensgeschichte ist mir wichtig, allgemeingültige Werte wie Vertrauen, Verständnis, Ehrlichkeit vor allem mit jungen Menschen zu diskutieren und im Alltag umzusetzen. Das wertschätzende Miteinander ist mein Thema und das möchte ich auch in der Bildungsarbeit an Schulen vermitteln.
Natürlich bekommen wir Menschen griechischer Herkunft 1) hier mit, wie es den Verwandten und allen in Griechenland geht. Jeder sucht nach Möglichkeiten, Unterstützung zu leisten. Weil ich schon lange im Stadtrat bin, kann ich auch auf kommunalpolitischer Ebene Erfahrungen weitergeben, wie im Juni bei einer Konferenz des griechischen Städtetags in Thessaloniki.

Wie stehen die Griechen denn im Moment zu Europa und zu Deutschland?
ZACHARAKI: Das muss man von zwei Seiten betrachten: Zum einen die Position der Griechen zu Europa und Deutschland, was die Institutionen, das Land und die Bevölkerung angeht, zum anderen ihre Position zur politischen Ebene. Da überwiegen negative Meinungen aufgrund der Austeritätspolitik, also all der Sparmaßnahmen, die durch das Diktat der „Troika“2) durchgeführt wurden. Die Troika wurde von den griechischen Medien sehr oft als Vertreter der EU und von Deutschland dargestellt. Die Unzufriedenheit der Griechen mit Europa und Deutschland geht auf diese Sparpolitik zurück und bezieht sich auf die politische Ebene.
Dass die Griechen aber positiv zu Europa stehen, hat das Ergebnis der letzten Wahlen bestätigt: 267 Abgeordnete – von insgesamt 300 im Parlament – vertreten proeuropäische Parteien. Und die guten Beziehungen zwischen Griechen und Deutschen kann man an der griechischen Diaspora in Deutschland und den vielen deutschen Touristen in Griechenland festmachen.

Von hier aus scheint es, dass Reformen in Griechenland nicht durchsetzbar sind. Stimmt der Eindruck?
ZACHARAKI: In den letzten Jahren wurden sehr viele Reformen übernommen und der griechische Staat ändert sich ständig. Fast alle Auflagen sind schon umgesetzt. Aber es ist fraglich, ob die Reformen positive Ergebnisse bringen können. Sie haben in erster Linie auf kurzfristige Einspareffekte gesetzt und dadurch die Krise noch verstärkt.
Es gibt solide wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen: Wenn man diese Sparmaßnahmen in Deutschland durchgeführt hätte, wäre auch die Wirtschaft hier zum Erliegen gekommen. In Griechenland hat man das gemacht. Man hat dort experimentiert.
Wissen Sie, hier in Deutschland wird gefordert, ohne dabei die Gründe sachlich zu hinterfragen. Zum Glück kamen vor der Sommerpause auch sachliche Berichte im Fernsehen, aber vergleichsweise wenig. Und wenn man ständig nur negativ über ein Land spricht, wird es ausgehöhlt und diffamiert. Damit wird die Würde eines Landes ruiniert.
Auch wenn vieles richtig ist, muss man trotzdem fragen, welche Berichterstattung sachlich ist und welche nicht. Und in Griechenland hat man dann in gleicher Weise geantwortet. Populistische Berichte – „die gierigen Griechen“, „die deutschen Nazis“ – unnötige Kommentare, Verallgemeinerungen erschweren eine sachliche Aufarbeitung der Gründe für die Krise.

Was müsste man für ein besseres Verständnis denn voneinander wissen?
ZACHARAKI: Da gibt es vieles. Von Griechenland kennt man hier oft nur die Geschichte der Antike. Umgekehrt gehört zum Geschichtsunterricht an griechischen Schulen nur die Nazizeit. Die Vor- und Nachkriegsgeschichte fehlt. Beide Seiten müssten dies den jüngeren Generationen auch durch Austauschprogramme vermitteln.
Aktuell weiß die europäische Bevölkerung auch wenig von der tatsächlich umgesetzten Politik während der Krise und den Auswirkungen auf die griechische Gesellschaft. Und die Griechen wissen wenig über die Struktur der deutschen Gesellschaft, was ihre Interkulturalität angeht.
Grund für das gegenseitige Unverständnis ist auch, dass die deutsche Gesellschaft eine Wachstumsphase erlebt und die griechische von den Effekten der Wirtschaftskrise voll betroffen ist. Das ruft unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen hervor.

Wie konnte es denn überhaupt zu der extremen Situation kommen?
ZACHARAKI: Politik spielt auf jeden Fall eine wichtige Rolle: politische Interessen, fehlende Verantwortung, Klientelpolitik.
Außerdem – und das ist in der Europäischen Union durchaus bekannt – hat Griechenland keine Industrie; es ist ein Importland. Landwirtschaft und Tourismus, mehr hat das Land nicht zu bieten. Wenn dann der Tourismus leidet und keine Kaufkraft mehr vorhanden ist, kommt alles zum Erliegen.
Daneben gibt es sehr viele andere Gründe, und bei vielem hat Griechenland ganz eindeutig eine Bringschuld!
Aber dann gab es auch globale und europäische Faktoren. Und da müssen wir in Europa dazulernen: Wenn Zuschüsse und Projektmittel erteilt werden, muss damit auch eine Kontrollfunktion verbunden sein. Da steht die EU in der Verantwortung. Wie vieles wird nach wie vor ohne jegliche Kontrolle in fast allen Ländern bezuschusst? Erst wenn sich die Situation zuspitzt, greift die EU ein. Das ist nicht in Ordnung.
Griechenland fehlen die Einnahmequellen, das ist das Problem! Einiges war vorhanden und ist durch bestimmte Auflagen der EU zunichte gegangen. Als ich das Gymnasium besuchte, gab es in meiner Region noch viele Fabriken, Textilindustrie. Viele Familien lebten von der Baumwolle. Nach Ansicht der EU gab es aber zu viel davon in Europa. So mussten die Leute umdenken. Vorher konnten sie wenigstens leben, jetzt haben sie gar nichts mehr.
Sind alle Auflagen der Troika sinnvoll? Welches Gremium oder welche Institution überprüft die Wirksamkeit? Eine Reflektion darüber, ob die Maßnahmen richtig sind und eine nachhaltige Wirkung haben, findet nicht statt. Das ist noch ein weiter Weg zu einer nachhaltigen europäischen Politik.

Wie schätzen Sie die Lage im Moment ein?
ZACHARAKI: Sehr optimistisch bin ich nicht. Ich bezweifle, dass strukturelle Reformen so schnell positive Wirkungen haben können. Aber ich hoffe auf ein solidarisches Europa mit dem griechischen Erbe. Alle Mitgliedsstaaten sind gefragt. In Griechenland wird vor allem ein Struktur- und Konjunkturprogramm benötigt. Nur durch die Sparmaßnahmen wird es nicht gelingen, das Land aus der derzeitigen Situation zu holen. Ich bin um die Zukunft des Landes besorgt, denn momentan profitieren vor allem westliche Länder. Sie werben das qualifizierte Personal ab. Das Know-how fehlt dann in Griechenland.

Und wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
ZACHARAKI: Dass es nicht eskaliert, ist schon bemerkenswert! Die Banken kontrollieren die Lage; keiner darf mehr als eine gewisse Summe abheben und alle machen brav mit.
Aber Griechenland muss auch die ganze Flüchtlingsproblematik angehen. Während alle anderen Länder ihre Grenzen schön zumachen, hat Griechenland sie jetzt schon seit Jahren offen, genau wie Italien; davon spricht man wenig. Solange die Flüchtlingspolitik nur die Grenzländer betraf, haben wir hier nichts gemacht.
Viele Griechen fragen sich deshalb nach den Werten und der Philosophie Europas. Das WIR-Gefühl fehlt! Jedes Land sucht sein eigenes Interesse. Beim gemeinsamen Wollen schaut man auf den wirtschaftlichen Bereich. Ich persönlich sehe diese Krise als Chance!

Vielen Dank für das Gespräch!
Gabi Ballweg

1) 2014 lebten gut 328 000 Griechen in Deutschland.
2) Troika bezeichnete eine Kooperation von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission, die mit den Mitgliedsländern über Kreditprogramme verhandelte.

Ioanna Zacharaki
1963, ist Germanistin, Soziologin, Referentin für Integration und Interkulturalität bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. in Düsseldorf. 1995 gründete die zweifache Mutter in Solingen einen deutsch-griechischen Kindergarten; seit 15 Jahren ist sie im Rat der Stadt Solingen, arbeitet in der griechischen Gemeinde und im griechischen Kulturverein mit, ist Vorsitzende des internationalen Frauenzentrums. Im Sommer 2015 gründete sie die AXION – Akademie der Werte, damit der Dialog über Werte in die Gesellschaft getragen wird. Derzeit setzt sie sich mit anderen Kommunalpolitikern in Brüssel für einen verlässlichen und ehrlichen Dialog zwischen Griechenland und Deutschland ein. Außerdem ist sie in ein Gremium aller in Europa aktiven Ratsmitglieder griechischer Abstammung gewählt worden – mit dem Ziel, in Kooperation mit dem griechischen Städtetag im Verwaltungssektor Unterstützung zu leisten.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2015)
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