16. Dezember 2015

Jeder hat das Zeug, Frieden zu schaffen

Von nst1

Offener Brief an Mary Montague, irische Friedensarbeiterin

Sehr geehrte Frau Montague,

Frieden wiederherzustellen, braucht langen Atem. Dass verfeindete Gruppen sich begegnen, Beziehungen zueinander aufbauen, einander zuhören, sich ihre Verwundungen erzählen, Verständnis füreinander aufbringen, sich wieder vertrauen, geht nicht von heute auf morgen. Sie wissen das besser als ich. Seit vierzig Jahren vermitteln Sie im Nordirlandkonflikt und tragen zur Versöhnung bei. Das zeugt von einem bewundernswerten Glauben, dass Frieden möglich ist, und von unglaublicher Ausdauer!

Als Krankenschwester mussten Sie während der „Troubles“, der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Nordirland, Verwundete versorgen. Nahezu jeder in Ihrer Straße hatte Tote zu beklagen. Als junge Mutter wollten Sie nicht, dass Ihre Kinder umgeben von Gewalt aufwachsen, die sie traumatisiert. So haben Sie sich daran gemacht, den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.

Zuhören ist für Sie dabei ein elementarer erster Schritt, die Arbeit an Beziehungen die Grundlage, mit der Sie das Vertrauen aller Konfliktparteien gewinnen konnten. „Es ist sehr leicht, einander zu verletzen, wenn wir den anderen als weniger menschlich darstellen“, warnen Sie in einem Interview und fordern auf, jene mit einer anderen Meinung genauso wie sich selbst ganz als Mensch anzusehen. Ihr Engagement als Vermittlerin zwischen den Fronten trug zu Waffenruhen und politischen Vereinbarungen bei, hatte aber einen hohen Preis: Jahrelang mussten Sie mit Todesdrohungen leben. Aber Sie haben sich nicht beirren lassen.
Um Ihre Erfahrungen weiterzugeben, gründeten Sie im Jahr 2000 zusammen mit Weggefährten die Organisation „TIDES Training“. Die englischen Begriffe, deren Abkürzungen in dem Namen stecken, bedeuten Umwandlung, gegenseitige Abhängigkeit, Vielfalt, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit. Darin steckt auch Ihr Programm, um einen dauerhaften Frieden zu erlangen. TIDES bildet Mediatoren aus und ermöglicht Sicherheitskräften und ehemaligen Kämpfern, ihre Erfahrungen zu reflektieren und darüber zu sprechen, sodass Wunden heilen können.
Sie haben in vielen Konfliktherden Mediatoren trainiert und Friedensprogramme angestoßen, im Kosovo, im Sudan, in Pakistan und Afghanistan. Dabei stülpen Sie niemandem eine Methode oder ein Konzept über. Sie gehen davon aus, dass die Menschen, die in einem Konflikt stehen, seine Dynamik und Einflussfaktoren am besten kennen. Sie wollen sie daher befähigen, selbst eine Lösung zu finden; nur so kann Friede nachhaltig sein. Dabei hilft Ihnen die feste Überzeugung, dass jeder Mensch fähig ist, Frieden zu schaffen.
Ihr Einsatz für den Frieden ist ein Dienst am Leben. Dass Sie mit Ihrem Mann neben zwei eigenen Kindern auch vierzig Pflegekinder groß gezogen haben, ist ein konkreter Ausdruck davon. „Um die Welt zu verändern, muss ich bei mir selbst beginnen und Beziehungen aufbauen, die auf gegenseitigem Respekt basieren“, sagen Sie in aller Bescheidenheit und mit großer Lernbereitschaft. „Der Heilige Geist sorgt für den Rest. Ich selbst säe den Samen.“
Wir verneigen uns vor Ihrer Lebensleistung und wünschen Ihnen, dass Sie noch viele Samen des Friedens streuen! Gleichzeitig versichern wir Ihnen, dass wir auch selbst unseren Teil zur Aussaat beitragen wollen.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Mary Montague (63) aus Belfast. Seit vierzig Jahren arbeitet sie in ihrer Heimat Nordirland und weit darüber hinaus für Frieden und Versöhnung. Dafür wurde ihr am 27. November der Internationale Bremer Friedenspreis 2015 verliehen.
www.tidestraining.org

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2015)
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