16. Januar 2016

Barmherzigkeit

Von nst1

Der Begriff erlebt durch das von Franziskus in der katholischen Kirche ausgerufene Heilige Jahr eine Art Konjunktur. Aber was meint Barmherzigkeit hier und heute in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen?

Frater Eduard Bauer, Prior der Barmherzigen Brüder Kostenz, Perasdorf, Niederbayern:
Barmherzigkeit beschreibt das Wesen Gottes. Nach dem „Lexikon für Theologie und Kirche“ ist sie die freie und freigiebige, nicht geschuldete Hinwendung Gottes zu seinen Geschöpfen.
Wie Barmherzigkeit gelebt werden kann, formuliert die christliche Tradition in den „Werken der Barmherzigkeit“ 1). Bei uns im Orden ist ihnen besonderes Gewicht zugemessen. Die Brüder legen neben den drei klassischen Mönchsgelübden noch ein viertes, das der Hospitalität (gelebte Gastfreundschaft) ab. Es gliedert sich in den Leitlinien in barmherzige, solidarische, gemeinschaftsstiftende, kreative, ganzheitliche, versöhnende, zur Mitarbeit einladende und prophetische Hospitalität.
In unserem Orden mit über 50 000 Mitarbeitern weltweit muss jeder „Oasen der Barmherzigkeit“ vorfinden können. Besonders heute muss unsere Aufmerksamkeit für Menschen in existenziellen Randsituationen verstärkt werden. Barmherzigkeit führt uns Barmherzige Brüder zu den Menschen, die in der größten Not leben. Das sind heute Flüchtlinge, im vergangenen Jahr die vielen Ebola–Toten. Immer stellt uns das Charisma Schwerstkranke, Sterbende und sozial Ausgegrenzte, aber auch Alte und Einsame vor Augen.
1) Leibliche Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote begraben.
Geistige Werke der Barmherzigkeit: den Zweifelnden Recht raten, die Unwissenden lehren, die Sünder zurechtweisen, die Betrübten trösten, Beleidigungen großmütig verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen, für die Lebenden und Gestorbenen beten.

Tilmann Tiss, 16, Schüler, evangelisch, aus Celle. Spielt Tennis, Volleyball, Gitarre und in mehreren Bigbands Schlagzeug:
„Was ist eigentlich Barmherzigkeit?“, habe ich mich gefragt. Und dann auch meine Freunde, alle zwischen 15 und 16 Jahre alt. Meistens erwähnten sie die Geschichte vom barmherzigen Samariter, konnten aber nicht sagen, ob es heute noch Barmherzigkeit gibt. Laut Wikipedia ist ein Mensch barmherzig, wenn er sein Herz öffnet und fremden Menschen in Not hilft. „Dann sind wir Deutschen ja barmherzig“, sagte eine Freundin daraufhin. „Wir nehmen Flüchtlinge auf, die sind ja Fremde in Not“. Doch diese Art von Barmherzigkeit hat nicht wirklich viel mit uns Jugendlichen zu tun. Wir bekommen zwar alles im Fernsehen mit, direkt helfen tun wir selbst wenig.
Aber es gibt noch Barmherzigkeit unter Jugendlichen, nur nicht so offensichtlich. Ist es denn nicht barmherzig, wenn man einem verpeilten Mitschüler, mit dem man eigentlich nichts zu tun hat, kurz vor der Stunde hilft, noch eine ordentliche Hausaufgabe zu machen, damit er sich endlich mal am Unterricht beteiligen kann? Oder wenn man seinem Sitznachbar die letzte Tintenpatrone schenkt, weil er keine mehr hat? Es sind Kleinigkeiten im Vergleich zum barmherzigen Samariter, der sein Vermögen für einen schwer verwundeten, ausgeraubten Mann ausgibt, doch sie sind es, die ein schönes Miteinander ermöglichen. Heutzutage ist Barmherzigkeit mehr mit Hilfsbereitschaft gleichzustellen. Wenigstens in meinem Freundeskreis und Umfeld ist sie zum Glück noch vorhanden.

Was bedeutet Barmherzigkeit aus Sicht eines Nichtglaubenden? Mario Frontini aus Italien lebt seit Jahren im Dialog mit der Fokolar-Bewegung:
Für Gläubige ist der Begriff religiös beladen und etwas überholt. Als Nichtglaubender suche ich nach anderen Ausdrücken für das Konzept, sodass es über das Christliche hinaus fassbar wird. Zunächst fällt einem das Wort Erbarmen ein; Mitleid, man empfindet das Leid der anderen und möchte es lindern. Empathie geht auch in die richtige Richtung; sie ist mehr als nur Mit-Empfinden, man versteht den anderen, schlüpft sozusagen in seine Haut.
Es stimmt, Barmherzigkeit hat etwas mit Mitleid zu tun, aber mit aktivem Mitleid, das Taten nach sich zieht. Und dieses Konzept, das wesentlich christlich ist, gehört gleichzeitig und jenseits aller Religion auch zum Humanismus. Es geht dann nicht darum, gute Werke gegeneinander auszuspielen, ob sie aus christlicher oder humanistischer Motivation kommen, sondern darum, „jene verborgene Harmonie zu suchen, die der Welt Erleichterung bringt“. Eine Harmonie, die – wie der Dialog – sich nicht in der Vereinheitlichung zeigt, sondern in der Unterschiedlichkeit.

Cor und Thomas Haselberger, leben mit ihren beiden Kindern, Tim (13) und Isabel (10), in Augsburg:
Thomas:
Funktionierende Partnerschaft hängt entscheidend von der Fähigkeit zur Barmherzigkeit ab. Das heißt nicht, Konflikte zuzudecken oder Unterschiedlichkeit zu ignorieren. Einheit in Unterschiedlichkeit kann nur erreicht werden, wenn wir im lebendigen Dialog bleiben, uns geduldig aneinander reiben. Reibung und Konflikte kosten aber Kraft und bergen die Gefahr, einander zu verlieren. Da hilft Barmherzigkeit, sich auf der emotionalen Ebene über das Verzeihen und die bedingungslose Liebe neu zu begegnen, auch wenn es auf der Sachebene unterschiedliche Auffassungen gibt.
Cor: Konkret im Alltag? Wieder hatte ich es nicht geschafft, die Wohnung in Ordnung zu bringen. Thomas, der sehr sanftmütig ist, aber an diesem Tag genervt von der Arbeit kam, äußerte seinen Unmut. Ich hätte ihm sagen können, was alles los war: Die Hausaufgaben brauchten Unterstützung, der Kurzbesuch der Nachbarin, das Telefonat, das Kochen… Aber ich sah, wie müde er war. „Es tut mir leid, du hast Recht“. Gemeinsam haben wir dann mit den Kindern das Gröbste aufgeräumt.
Oder: Die Kinder sind spät aufgestanden, frühstückten trotzdem gemütlich. Danach höre ich sie ausführlich im Bad diskutieren, die Stimmung wird gereizter. In zehn Minuten fährt der Schulbus, Hektik kommt auf. Es wird gestritten. Ich wollte vor der Arbeit noch duschen und eine Viertelstunde für mich haben, bevor ich mit dem Rad zur Arbeit fahre. Egal, Erziehungsgrundsätze hin oder her, ich kann auf diese Viertelstunde verzichten, wichtig ist zu lieben. So beschließe ich, die Kinder zur Schule zu fahren. Die Überraschung ist groß, der Frieden wiederhergestellt.
Thomas: Barmherzigkeit schafft Wärme, ermöglicht das gegenseitige Verzeihen, beseitigt Hindernisse, öffnet die Herzen.

Christine und Thomas Hüttl führen ein Hausverwaltungsunternehmen in Augsburg mit insgesamt 16 Mitarbeitern, darunter drei Auszubildende:
Thomas:
1995 stand ich vor dem Aus meiner damaligen Firma. Natürlich war auch die private wirtschaftliche Situation nicht leicht. Einige „zufällige“ Ereignisse haben mich erfahren lassen, dass Gott mich unendlich liebt, trotz meiner Fehler und meines Versagens.
In dieser Zeit war mein Tag nur von Ärger geprägt. Wenn das Telefon klingelte, schnellte mein Puls nach oben. Da stieß ich auf das Schriftwort: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ (Matthäus 5,44) – Ich begann, für die zu beten, die mich „verfolgten“. Je unangenehmer ein Geschäftspartner wurde, desto mehr schloss ich ihn in meine Gebete, was mir nicht immer leicht fiel. Dies gab mir eine ruhigere Haltung, ein objektiveres Verhalten im Gespräch, es nahm Emotionen aus den Sachfragen und ließ mich mehr Risiken in meinen Beziehungen eingehen.
Christine: Ende 2009 beschäftigten wir T. und S., die wir ausgebildet hatten, in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Eines Morgens teilte T. uns mit, dass er zu einem anderen Arbeitgeber wechselte. Dort verdiente er rund 1 000 Euro mehr, bekam einen Firmenwagen und eine Halbtags-Sekretärin. Mit allen Mitarbeitern überlegten wir, wie wir die Stelle besetzen konnten und kamen auf S. Am nächsten Tag erklärte sie, dass auch sie eine neue Arbeit hatte. Diese Kündigung hat mich tief getroffen, weil wir sie auch durch private Probleme begleitet hatten. Trotz allem hielten wir Kontakt zu beiden.
2013 suchten wir Mitarbeiter. Ein Mann wollte außer dem Gehalt auch einen Firmenwagen. Da wir keine Erfahrung mit der steuerlichen Behandlung hatten, rief Thomas bei T. an, der uns schnell weiterhalf. Zwei Tage später meldete er sich und fragte, ob bei uns eine Stelle frei sei; mir fiel fast der Hörer aus der Hand. Ich wies darauf hin, dass wir sein jetziges Gehalt nicht zahlen konnten. Diesen Einwand ließ er nicht gelten: „Geld ist nicht alles.“
Ungefähr 14 Tage später bat S. um ein Gespräch. Sie erzählte, dass ihr Chef ihr im Fall einer Schwangerschaft eine Teilzeitstelle mit Homeoffice versprochen hatte. Nun wollte er davon nichts mehr wissen. Sie fragte, ob wir nach ihrem Erziehungsurlaub eine Teilzeitstelle hätten. Wir stellten sie noch vor der Geburt ihres Kindes ein. So haben wir zwei neue „alte“ Mitarbeiter gewonnen, die sich bestens auskannten und durch ihren „Ausflug“ in andere Firmen an Erfahrung gewonnen hatten.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2016)
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