21. April 2016

Runterkommen von der Anspannung

Von nst1

Manche Babys schreien und schreien: Was Mama und Papa auch tun, sie sind nicht zu beruhigen. Almut Heitmann kümmert sich um die geplagten Familien.

Überdreht, schrill, in hoher Tonlage schreien die Babys. Wenn sie mindestens drei Wochen an drei Tagen in der Woche drei Stunden lang brüllen, gelten sie als Schreibabys. Aber Almut Heitmann – Kinderkrankenschwester und Heilerziehungspflegerin – relativiert diese Definition: „Manche Kinder schreien 17 Stunden, andere nur zwei Stunden am Stück – ganz egal: Bevor die Eltern die Nerven verlieren, sollten sie sich Hilfe holen.“

Durch das ständige Schreien leiden die Eltern bald so wie die Babys unter Schlafmangel. Das macht sie gereizter, hilfloser, und es kann passieren, dass sie Aggressionen entwickeln, die sie irgendwann nicht mehr in den Griff bekommen. Schlimm ist auch die Isolation. Betroffene Paare trauen sich kaum noch in die Öffentlichkeit. Dazu führen misstrauische Blicke von Passanten; Vorwürfe und gut gemeinte Ratschläge von Verwandten und Freunden; schließlich das Gefühl, als Eltern auf ganzer Linie versagt zu haben und dem Kind nicht geben zu können, was es braucht: für die Paarbeziehung eine extreme Belastungsprobe!

Almut Heitmann: "Ist es okay, wenn ich jetzt mal Ihr Kind nehme und Sie sich zurücklehnen?" Foto: privat

Almut Heitmann: “Ist es okay, wenn ich jetzt mal Ihr Kind nehme und Sie sich zurücklehnen?” Foto: privat

Ist das Baby krank, hat es irgendwo Schmerzen? Die meisten Eltern haben ihr Kind schon in unzähligen Arztpraxen und Beratungsstellen durchchecken lassen, bevor sie es bei einer Schreibaby-Ambulanz versuchen. „Ich sag ihnen erstmal: Was Sie geleistet haben, ist enorm! Sie haben alles gegeben, müssen völlig erschöpft sein!“ In ihrer Gemeinschaftsambulanz in Dresden macht Almut Heitmann den verzweifelten Eltern Mut und versucht, ihnen die Schuldgefühle zu nehmen. „Ist es okay, wenn ich Ihr Kind nehme und Sie sich zurücklehnen? Ihre einzige Aufgabe: ganz ruhig und entspannt atmen, und zwar in den Bauch.“ So einfach das klingt, für die Eltern kann es ein erstes Schlüsselerlebnis sein. Denn oft stehen sie so unter Stress, dass sie angespannt, kurzatmig und verkrampft sind. „Dasselbe mache ich mit dem Baby, trage es mit großen Wiegeschritten, atme dabei entspannt in den Bauch, versuche, es so rund wie möglich zu halten. Beim vielen Schreien überstreckt es sich. Es hat sehr viel Stress gespeichert. Das zeigt sich in seiner verkrampften Körperhaltung.“

Natürlich hört das Baby nicht gleich bei der ersten Sitzung auf zu schreien. Almut Heitmann, selbst Mutter von drei Kindern, ermutigt, dem Kind einfach zuzuhören. „Unterdessen gehe ich weiter mit dem Kind hin und her, bis zu 20 Minuten. Manche Eltern halten das nicht aus.“ Dann legt die 43-Jährige der Mutter das schreiende Kind auf den Körper, lässt sie weiter in den Bauch atmen, so dass sich das Baby hebt und senkt. Mit der aufgelegten Hand vermittelt sie beiden Unterstützung. „Nicht selten fängt die Mutter zu weinen an. Denn sie ist entspannt, bei sich selbst, im Körper, nicht mehr so im Kopf, und entwickelt ein Gefühl für das Kind, ist auch mehr beim Kind.“

Wie verlief die Schwangerschaft? Wie die Geburt? War es ein Wunschkind? Wenn das Gespräch nicht schon automatisch darauf kommt, fragt Almut Heitmann gezielt nach. Sie erfährt vielleicht, dass der Säugling direkt auf die Kinderstation kam, weil es ihm schlecht ging, so dass er nach der Geburt von den Eltern getrennt war. „Das kann auf beiden Seiten ein Trauma ausgelöst haben“, erklärt Almut Heitmann. Oder es kommt heraus, dass die Geburt extrem schwierig war. „Hat die Mutter sie als lebensbedrohlich empfunden, hat es das Baby wohl genauso erlebt.“ Oder Untersuchungen während der Schwangerschaft hatten ergeben, das Kind könnte krank oder behindert sein. „Eltern versuchen dann oft, innerlich nicht so eine enge Bindung zu dem Kind aufzubauen, falls es eine Fehlgeburt wird.“ Möglich, dass Arbeitsstelle, Partner oder Familie Druck in Richtung Abtreibung gemacht hatten und die Frau um das Kind kämpfen musste. Kurz: Meistens haben die Familien eine Krise erlebt, die bei den Eltern entweder eine emotionale Distanz zu dem Kind geschaffen hat oder durch die das „Bonding“ weggefallen ist, der direkte Körperkontakt in der Zeit sofort nach der Geburt.

Manchmal reicht schon eine einzige Sitzung. „Durch das Erzählen, Reflektieren und Bewusstmachen, dass die Nähe zu dem Kind fehlte, begreifen die Eltern, wo sie ansetzen können.“ Die „Körperarbeit“ kann den Eltern-Kind-Kontakt verstärken und eine gestörte Bindung wieder aufbauen. Wenn Almut Heitmann der gestressten Mutter eine „Rückenstrecker“- oder Fußmassage anbietet, will sie ihr helfen, wieder „ins Spüren“ zu kommen, ihre mütterliche Intuition zu stärken. Die Massage soll helfen zu entspannen, Sorgen und Ängste loszulassen und sich selbst wieder besser wahrzunehmen: „Sie sind die ganze Zeit gedanklich beim Kind und haben sich vernachlässigt, haben kein Gefühl mehr für ihr eigenes Befinden. Aber kein Kind möchte Eltern, die nicht sie se

Almut Heitmann arbeitet in einer Schreibaby-Ambulanz in Dresden. Foto: privat

Almut Heitmann arbeitet in einer Schreibaby-Ambulanz in Dresden. Foto: privat

lbst sind.“

Almut Heitmann spricht aggressive Gefühle an, die gegen das Baby hochkommen können. Sie bringt den Eltern Techniken bei, wie sie davon herunterkommen, oder macht mit ihnen Übungen, mit denen sie Aggressionen ausdrücken und herauslassen können. „Aber nicht mit blinder Wut, sondern gezielt. Sie sollen dabei die Augen offen lassen, ganz bei der Sache bleiben.“ Die Babys schauen oft belustigt zu oder lachen bei den spielerischen Übungen der Eltern sogar.

Das schreiende Baby bewusst zu ignorieren, davon rät Almut Heitmann eher ab: „Wenn man es auf Dauer beim Schreien nicht begleitet, schreit es natürlich irgendwann nicht mehr“, meint sie. „Es resigniert, weil es merkt, es bewirkt nichts.“ Für manches Kind könnte damit das Erlebnis gebrochenen Vertrauens zur Grunderfahrung seines Lebens werden: Die Bezugspersonen sind nicht da, wenn es sie braucht.

Foto: privat

Foto: privat

Ein Teil der Schreibabys ist per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. „Das sind häufig Kinder, die nicht tief und nur kurz schlafen, als könnten sie etwas verpassen“, erläutert Almut Heitmann. „Sie wurden regelrecht ‚herausgerissen’: Den Geburtsprozess, bei dem Babys kämpfen müssen, haben sie so nicht mitgemacht.“ Bei der Geburt erleben sie sonst in Wellen einen hohen Druck. „Das kann ich bei der Kaiserschnittmassage nacharbeiten. Dabei massiere ich sehr fest von oben bis unten und löse die angesammelte Anspannung.“

Später wird gemeinsam überlegt, wer vor allem die Mutter unterstützen könnte: Gibt es eine Oma, eine gute Freundin, eine Nachbarin, die im Haushalt mithelfen, das Baby ein paar Stunden nehmen oder einfach da sein kann? „Manchmal ist es der Partner, der bisher außen vor war, der seine Frau stärker entlastet. Es geht darum, die Situation so zu stabilisieren, dass sich die Eltern nach spätestens zehn Sitzungen zutrauen, allein weiterzukommen.“

Was wird aus den Schreibabys? „Das sind meistens Kinder, die sich gut und schnell entwickeln“, hat Almut Heitmann beobachtet. „Sie können oft sehr früh krabbeln und laufen. Vielleicht, weil sie schon so viel mitgemacht haben? Jedenfalls sind sie häufig sensibel, neugierig und sehr wach. Das zu wissen, kann tröstlich sein für die Eltern.“
Clemens Behr

www.rueckhalt.de
www.schreibaby-ambulanz-dresden.de
www.trostreich.de
www.emotionelle-erste-hilfe.org

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2016)
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