18. Mai 2016

Chance zum Aufbruch von der Nulllinie

Von nst1

Offener Brief an Hartmut Niehues, Priesterausbilder

Sehr geehrter Regens Niehues,

Priesterweihen sind rar geworden. Bei den Priesteramtskandidaten sei die katholische Kirche in Deutschland „quasi an der Nulllinie angekommen“, haben Sie der Kirchenzeitung des Bistums Münster gesagt und neue Wege in Seelsorge und Priesterausbildung gefordert: „Das System, wie es bisher besteht, ist am Ende.“ Mich freut, dass Sie das so deutlich auf den Punkt bringen!

Berufungen zu Priesteramt, Ehe, Ordens- und neuen geistlichen Gemeinschaften oder einfach einem Leben als Christ entstehen nicht aus heiterem Himmel. Nötig ist ein fruchtbarer Humus, in dem sie sich entwickeln können. Für den Ruf Gottes braucht es Hörbereitschaft. Das drückt auch Ihre Frage aus, ob die Menschen heutzutage „überhaupt noch damit rechnen, dass Gott an ihnen handelt.“

Den Humus können Priester nicht allein bilden: Nur eine Gemeinschaft von Gläubigen kann das Biotop formen, in dem Berufungen wachsen. Hier sind die Pfarrgemeinden gefragt, hier kommen die Familien ins Spiel. Der Religionspädagoge Albert Biesinger verweist auf das Apostolische Schreiben „Amoris Laetitia“. Der Papst erkläre darin die Katechese in der Familie zum entscheidenden Ansatz der Glaubensweitergabe, so Biesinger im April gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA. Franziskus fordere, den jungen Vätern und Müttern ihre Aufgabe bewusst zu machen, das Evangelium in ihrer Familie weiterzugeben, und sie in ihrer religiösen Erziehungskompetenz zu unterstützen.

Es gibt Initiativen, die Eltern bei der Weitergabe des Glaubens unterstützen oder den erwähnten Humus bereiten: „Religiöse Kinderwochen“; gemeinsame Familienferien; Familienkreise. Mehr davon, verlangt Biesinger zu Recht, und nennt „fröhliche und effektive Begleitungswege“, Pilotprojekte „von Schwangerschaft und Taufe über die Kita bis zu Erstkommunion und Firmung.“

Ich teile Ihren Wunsch, Herr Niehues, nach einem „Machtverzicht der Priester“, um der Kirche mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ihr Einfluss in unserer Gesellschaft, die Gott, Glaube, Kirche zunehmend für überflüssig hält, wird notgedrungen schwinden. Ja, „es braucht ein bescheidenes, demütiges Auftreten“ – das gilt nicht nur für Amtsträger, sondern jedes Mitglied der Kirche.

Selbstbewusst, aber unaufdringlich Christ sein; ganzheitlich, sodass der Alltag davon durchdrungen ist; in Gott verwurzelt, aber Schulter an Schulter mit allen Menschen: diese Art Christsein wünsche ich uns. Jeder ist für jeden mitverantwortlich. Oder, wie Sie sagen, „jeder Getaufte ist für den anderen Seelsorger“. Aufgabe des Priesters müsse sein, „die Getauften in ihrem Christsein und ihrem Dienst für die anderen zu stärken”.

Alles Ausgrenzende, Kleinkarierte in den Gemeinden tötet den Geist, die Freude, die Lebendigkeit. Wenn Menschen wieder wie von den ersten Christen sagen könnten: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; sie hatten alles gemeinsam“ 1, könnten auch die etablierten Kirchen wieder an Anziehungskraft gewinnen. Dann, könnte ich mir vorstellen, würde auch die Hörbereitschaft für einen Ruf Gottes wieder zunehmen und die Großzügigkeit, darauf mit seinem Leben verbindlich zu antworten.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

1) Apostelgeschichte 4,32

Unser offener Brief wendet sich an Hartmut Niehues, geboren 1971, als Regens für die Priesterausbildung im Bistum Münster zuständig. Niehues steht der Deutschen Regentenkonferenz vor. In einem Interview anlässlich des katholischen Weltgebetstages um geistliche Berufe am 17. April hat er in der Münsteraner Bistumszeitung „ Kirche+Leben“ neue Wege in Seelsorge und Priesterausbildung verlangt.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2016)
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