18. Mai 2016

„Man kann das Schlimme sehen oder optimistisch sein.“

Von nst1

Kinder auf der Intensivstation: ein Kampf gegen die Krankheit, ein Leben zwischen Maschinen und medizinischen Therapien. Michael Oertel bringt als Geschichtenerzähler Abwechslung in ihren Klinikalltag.

Marina, vier Jahre alt, liegt in ihrem Krankenbett, als Michael Oertel in das Zimmer auf der Intensivstation kommt, und rührt sich nicht. Kann sie auch nicht, weil sie von oben bis unten eingegipst ist. Will sie aber auch nicht. Zu niemandem nimmt sie Kontakt auf, hatte die Krankenschwester vor der Tür gesagt. Sie liege nur da. Die Schwester wisse nicht, ob die Kleine überhaupt etwas wahrnehme.

Marina war kerngesund und lebensfroh, bis ihre größere Schwester sie aus dem vierten Stock warf. Sie rang mit dem Leben, hat überlebt, wird aber bis ans Lebensende schwerstbehindert sein. Ihre Eltern sind wegen des Vorfalls in der Psychiatrie. „Wie ich mich auch drehte und wendete, sie ließ sich nicht in die Augen schauen“, erinnert sich Michael Oertel. Er lese ihr eine Geschichte und spiele dazu Musik vor, erklärte er dem Mädchen. „Und du kannst ja dann zwinkern, lächeln oder aber weghören.“

Michael Oertel bringt den Kindern seine Geschichte von der "Helfe-Elfe" mit Handpuppen wie dem neunmalklugen Maulwurf nahe. - Foto: privat

Michael Oertel bringt den Kindern seine Geschichte von der “Helfe-Elfe” mit Handpuppen wie dem neunmalklugen Maulwurf nahe. – Foto: privat

Michael Oertel trägt das von ihm verfasste Kinderbuch von der immer hilfsbereiten, fröhlichen „Helfe-Elfe Magda in Ostfriesland“ vor, die sich aus ihrem Zauberwald wagt. Weil sie von ihrem Lieblingswicht einen Zauberstab bekommen hat, denken alle fälschlicherweise, sie könne zaubern. In Ostfriesland lernt sie einen schusseligen Leuchtturmwärter kennen, der seinem selbst verursachten Pech jedoch immer etwas Positives abgewinnen kann. „Zum Beispiel reißt ihm der Beutel mit Blumensamen auf, den er seiner Frau mitbringen soll“, fasst Oertel die Geschichte zusammen. „Er merkt aber erst kurz vor der Haustür, dass er unterwegs alle Samen verloren hat. Seine Frau wird böse sein, er aber denkt sich: ‚Ist doch nicht so schlimm. Da wachsen die schönen Blumen entlang des Weges. Und darüber freuen sich dann viele!’ Andere Leute ziehen also Nutzen aus seiner Tollpatschigkeit. Eine Münze hat eben immer zwei Seiten: Man kann das Schlimme sehen oder optimistisch sein.“ Auf der Suche nach ihrem besten Freund, dem Wicht, braucht die Helfe-Elfe selbst Hilfe. „Ein Geben und Nehmen“, erläutert Oertel. „Die Geschichte will vermitteln, dass man auf sein Herz hört und sich auf das Menschliche besinnt. Sie ist ursprünglich für unsere schwer behinderte Tochter entstanden. Das Buch will auch zeigen, dass jeder andere Fähigkeiten hat – ein Plädoyer für ‚anders begabte Menschen’.“

Die Geschichte ist schon fast zu Ende. Von Marina noch immer keine Reaktion. Erst beim Lied des Leuchtturmwärters ein Lachen. „Als ich gefragt hab: Soll ich´s noch mal spielen?, hat sie wieder gelacht. Dann wollte ich wissen: Soll ich wiederkommen? Da hat sie erst gelacht, dann geweint. Zumindest war klar, dass sie etwas mitbekommen hat.“

Die Mädchen und Jungen, die Michael Oertel besucht, liegen nicht von ungefähr auf der Intensivstation. Manche wurden mit Behinderungen geboren, andere hatten einen Infarkt und eine Herz-OP: „Also eine breite Palette von langzeitkrank bis Unfallopfer.“

Emily ist viereinhalb Jahre alt und zeit ihres Lebens im Krankenhaus. Ihr fehlt der Darm. „Einzelne Tage ist sie schon mal zu Hause gewesen. Versuche mit einer 24-Stunden-Intensivpflege sind aber immer wieder gescheitert.“ Für jede der Charaktere aus der Helfe-Elfe-Geschichte hat der Sozialpädagoge, der die Kinder in seiner Freizeit besucht, eine Handpuppe. Vom Wicht oder dem neunmalklugen Maulwurf, der überall seinen Senf dazugibt, lassen sich einige Kinder leichter ansprechen. Sie helfen, das Eis zu brechen. Oertel setzt außerdem Bildkarten und Ausmalblätter ein; für jede Figur hat ein Freund ihm eine Erkennungsmelodie komponiert, die er per DVD-Player vorspielen kann. Was er einsetzt, entscheidet er aus dem Bauch heraus: „Einige Kinder wollen einfach nur zuhören. Andere brauchen eine Puppe, um sich mitzuteilen.“

Das zweite Helfe-Elfe-Buch. - Illustration: (c) Janine Kuhnt

Das zweite Helfe-Elfe-Buch.                     Illustration: (c) Juliane Kuhnt

Je nachdem, welche Bücher oder Spielsachen er vorfindet oder was das Kind von sich erzählt, baut Michael Oertel etwas Persönliches in die Geschichte ein: Hat er es mit einem Fußballfan zu tun, dann spielt der Maulwurf gerne Fußball. Gab es beim letzten Kindergeburtstag Quarkkuchen, wird dem Leuchtturmwärter auch einer gebacken. Emilys Herz jedenfalls hat der Vorleser schnell erobert, obwohl er sich aus Gründen der Keimfreiheit einen gelben Plastikoverall überziehen musste und mit Emily nur durch die Gitterstäbe ihres Bettchens sprechen konnte.

Die meisten Kinder freuen sich über den Besuch, sind anfangs höchstens etwas reserviert. „Sie haben außer zu Angehörigen und Klinikpersonal ja keinerlei Kontakte. Da ist es toll, wenn im durchstrukturierten, mit Schmerzen verbundenen Alltag jemand extra für sie kommt. Das genießen sie.“ Der Vorleser hatte aber auch schon mit Ablehnung zu kämpfen: Das sechsjährige Kind eines Geschäftsführers besaß ein Tablet und alle möglichen elektronischen Spielzeuge. „Das war vollkommen maßlos und vermessen. Wahrscheinlich bin ich ihm tierisch auf die Nerven gegangen mit meinem Buch.“

Berat, Sohn eines Türken und einer Deutschen, war mit 13 Jahren schon zu alt für Kindergeschichten. Aber der Krankenschwester zuliebe ließ Oertel sich darauf ein. „So sehr die Schwester Berat auch bekniete, der freche Bengel hatte keine Lust: ‚Heute? Leider nein!’ Mit einem dahergelaufenen Märchenonkel wollte er sich nicht abgeben.“ Oertel redete ihm gut zu und verabredete, dass Berat ihn jederzeit mit einem „Stopp“ unterbrechen könne. „Und dann sind wir ganz dicke Freunde geworden. Ich lasse immer ein Buch oder eine CD als Geschenk da, das können sie sich aussuchen. Er entschied sich für das Buch, aber nicht für sich – er ist ja schon viel zu groß! -, sondern für seine kleinen Cousinen, wenn sie ihn im Krankenhaus besuchen kommen.“

Der "Märchenonkel" und die Handpuppe unterhalten sich mit einem schwerkranken Kind. - Foto: (c) M. Oertel

Der “Märchenonkel” und die Handpuppe unterhalten sich mit einem schwerkranken Kind. – Foto: (c) M. Oertel

Etwa alle vierzehn Tage zieht Oertel los in die Leipziger Uni-Klinik. Die Besuche strengen ihn körperlich und psychisch an: „Im Sommer bin ich danach klitschnass!“ Aber die Reaktionen der Kinder sind es ihm wert. „Oft bin ich nur einmal bei einem Kind. Als ich das zweite Mal zu Marina kam, rang die Bezugsschwester ganz gerührt nach Worten vor Freude darüber, wie sehr sich das Kind verändert hatte: Sie, die die ganze Welt und sich selbst aufgrund ihrer Geschichte hasste, schaute die Schwester jetzt an, trank bereitwillig und nahm ihre Anweisungen wahr.“
Von dem Wandel konnte sich Oertel selbst überzeugen. Marina empfing ihn schon plappernd: „Du erzählst mir jetzt was von der Helfe-Elfe. Die war nämlich im Zauberwald…“ Die ganze Geschichte konnte sie nacherzählen; bei der Musik summte sie mit.
Oertel ging noch ein drittes Mal zu ihr. Aber gegen Ende der Geschichte hörten ihre Augen auf zu leuchten und ihre Stimmung kippte: „Offensichtlich wurde ihr bewusst, dass die schöne Geschichte vorbeigeht, ich sie wieder verlassen muss und sie dann wieder ihrem Elend überlassen bleibt. ‚Bitte, geh!’, hat sie gesagt und bitterlich geweint.“
Clemens Behr

www.michaeloertel.com

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2016)
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