17. Mai 2016

Versöhnt leben – Grenzen überschreiten

Von nst1

Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 möchten die mehr als 300 christlichen Gemeinschaften des internationalen Netzwerkes „ Miteinander für Europa“ gemeinsam ein Zeichen der Hoffnung setzen.   Vom 30. Juni bis 1. Juli laden sie deshalb zunächst zu einem Kongress im Circus-Krone-Bau und am 2. Juli zu einer Kundgebung auf dem Karlsplatz nach München ein. 1 Ihr zentrales Anliegen ist es, in Zeiten der Krise und inneren Zerrissenheit des europäischen Kontinents ein klares öffentliches Zeichen für Versöhnung und Einheit unter den Christen zu setzen.

Walter Kriechbaum - Foto: (c) Ursel Haaf

Walter Kriechbaum – Foto: (c) Ursel Haaf

Walter Kriechbaum ist evangelischer Pfarrer und CVJM-Sekretär in München. Schon bei der Geburtsstunde des „ Miteinanders für Europa“ am 31. Oktober 1999 ist er mit dabei. Aus der gemeinsamen Wegerfahrung des Netzwerkes und dem Wunsch, Versöhnung zu leben und miteinander Grenzen zu überschreiten war er gemeinsam mit seiner Frau Annemarie viele Male in Polen, pflegt Kontakte nach Tschechien und Frankreich und hat auch zahlreiche Begegnungsreisen für größere Gruppen organisiert. Er erzählt hier von einigen persönlichen Lernerfahrungen auf diesem Weg.

 

Begegnungen

Meine Frau und ich sitzen in einer Geburtstagsfeier weit im Osten Polens, unweit der weißrussischen Grenze. Ein Mann feiert zusammen mit seiner Frau inmitten einer großen christlichen Gemeinschaft seinen 90. Geburtstag. Zufällig sind wir gerade in der Nähe und werden eingeladen. Man bittet uns in die erste Reihe und wir ahnen nicht, was auf uns zukommt inmitten von rund 100 Gästen. Man übersetzt uns liebevoll simultan ins Ohr, als dieser so gütig wirkende Mann aus seinem Leben erzählt: Viele Jahre war er im Widerstand gegen die grausamen deutschen Besatzer. – Mir stockt der Atem. – Familienmitglieder wurden hingerichtet. – Am liebsten wäre ich davongelaufen. – Er erzählt, wie er Jahre nach dem Krieg Schritt für Schritt Deutschen begegnete, positive Erfahrungen machte. Die Eucharistie wurde zu einer Quelle der Vergebung und Versöhnung. Aus der Kraft der Vergebung und Versöhnung wurde sein Herz frei. Voller Güte wendet er sich an meine Frau und mich. – Mir kommen die Tränen. Tiefe Gespräche entwickeln sich zwischen uns. Ein Same des Vertrauens ist gelegt.

Szenenwechsel: Eine polnische Professorin, die durch Nazi-Deutschland viel Leid in ihrer Familie erlebt hat, antwortet auf meine Frage, was ihr in der Begegnung mit mir, einem Deutschen, helfen würde: „Es hilft mir, wenn du mir zeigst und sagst, dass du weißt, was damals geschehen ist. Es hilft mir, wenn wir heute miteinander neue Erfahrungen machen und in mir neue Bilder von Deutschen entstehen.“

Versöhnung als Lebensstil

Eine CVJM-Gruppe zu Besuch in Belgien - Foto: privat

Eine CVJM-Gruppe zu Besuch in Belgien – Foto: privat

Versöhnung hat ihre tiefste Quelle in der Vergebung, die Menschen durch Jesus Christus erfahren. Zugleich lerne ich: Versöhnung ist ein Prozess, nicht nur ein einmaliges Ereignis. Menschen und Völker haben einander in der Geschichte Gewalt angetan. Die alten Geschichten scheinen heute weit weg, wenig interessant und relevant. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Unter der Oberfläche gibt es ein kollektives Gedächtnis und ein waches Unterbewusstsein.
Versöhnung beschreibt einen Lebensstil und eine Lebenshaltung. Sie ist immer mit dem Wagnis verbunden, abgelehnt oder missverstanden zu werden.
Versöhnung verbindet sich gelegentlich mit Schmerz. Wie etwa in dieser Situation: Mit einem Bekannten aus Tschechien bin ich dabei, ein gemeinsames Besuchs- und Begegnungsprojekt zu entwerfen. Wir verstehen uns gut. Doch überraschend kommt ein Bruch: Wir können nicht weitermachen. Die Vergangenheit blockiert unser Miteinander. Warten wir ab. Für mich ist das sehr schmerzlich.
Versöhnung eröffnet aber andererseits einen Raum, das Spannungsvolle, Fremde, vielleicht Unheimliche an sich heranzulassen und in tieferer Weise aufeinander zu hören: Polnische Freunde fangen an, über ihre Ängste zu reden, die die Krim-Annexion 2014 in ihnen ausgelöst hat. Sie drücken ihren Schmerz darüber aus, dass sie sich weiter im Westen so wenig verstanden fühlen. Ich versuche, ihr Empfinden auszuhalten. Über die Jahre und durch zahlreiche Begegnungen fange ich an zu verstehen, was eine sogenannte polnische Seele zu empfinden und auszudrücken vermag.

Ottmaring vor den Toren von Augsburg, 31. Oktober 1999: Die Geburtsstunde von "Miteinander für Europa" - Foto: Archiv NST

Ottmaring vor den Toren von Augsburg, 31. Oktober 1999: Die Geburtsstunde von “Miteinander für Europa” – Foto: Archiv NST

Und wieder ein Szenenwechsel: Ich stehe mit einem Italiener zusammen, in Rom. Manches haben wir schon gemeinsam erlebt, geplant, durchgetragen. Das verbindet. Unvermittelt legt er seine Hand auf meine Schulter und sagt: „Gut, dass wir Euch Deutsche haben!“ Zunächst bin ich erschreckt. Aber er hat es ernst gemeint, erklärt mir seine Gründe. Ich kann ihm sagen, dass es mir wichtig scheint, dass wir Deutsche etwas von der italienischen Mentalität an unserer Seite haben. Das geht nicht, ohne dass wir uns immer wieder auch befremdlich vorkommen. Aber wenn wir uns durch dieses Empfinden hindurchtasten, werden wir einander zum Gewinn. Das Fremde wird zur Bereicherung. Unsere Freundschaft hat sich weiter vertieft.

Eine tiefe Freundschaft zu einem Franzosen entsteht. Über Jahre auch durch Krisen gewachsen. Schwierige Begegnungen haben wir ausgehalten und nicht voneinander gelassen. Aus Freundschaft ist Zusammenarbeit gewachsen. Und das obwohl seine Familie unsäglich unter Hitlers Truppen gelitten hat und er einen langen Weg der Heilung und Versöhnung gehen musste. Ich frage ihn bei einem Glas Rotwein in der Nähe von Paris: „Wie schaut ihr Franzosen heute auf uns Deutsche? Wie geht es euch beim Blick über den Rhein?“ Vertrauen macht seine Antwort möglich: „Viele Landsleute und auch ich haben eine tiefe Achtung und Respekt vor euch. Eure Innovationskraft, Organisationsfähigkeit und Leistungskraft beeindrucken uns. Zugleich haben wir auch ein wenig Angst vor euch, denn ihr könnt so stark sein.“
Solche Augenblicke und Blicke ins Herz eines anderen Menschen und Volkes verändern mein Bild, meine Sprach- und Umgangsweise. Das macht Arbeit auch an mir selbst erforderlich. Meine Sichtweisen sind nicht die einzig denkbaren. Es braucht differenzierte Töne, eine große Achtsamkeit für die Sprache, ich meine sogar: ein versöhntes Sprechen, das auf tiefem Verstehen gründet.

Der Glanz Europas

Das Netzwerk von mehr als 300 christlichen Gemeinschaften will ein Zeichen für Versöhnung in Europa setzen. - Foto: Archiv NST

Das Netzwerk von mehr als 300 christlichen Gemeinschaften will ein Zeichen für Versöhnung in Europa setzen. – Foto: Archiv NST

Seit 2000 ist das Motto der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“, „United in diversity“, „Unie dans la diversité“.
Vielfalt braucht Begegnung, um sich als Vielfalt ausdrücken und darstellen zu können. Damit Begegnung gelingen kann, braucht es die Vergewisserung über die eigene Identität. Ich habe gelernt: Die Gewissheit über mich selbst gibt mir Festigkeit und zugleich Offenheit in der Begegnung mit dem Fremden, Unbekannten, Andersartigen. Dabei nehme ich Ängste in mir wahr, und die kann ich nicht einfach wegdrücken. Aber ich kann Begegnung und Vertrauen wagen. Auf diese Weise verlieren Ängste ihre Macht.

Einheit ist weder Gleichmacherei noch Gleichheit. Vielheit zu gestalten liegt immer wieder vor uns. Gerade auch in Europa. Der Glanz Europas sind seine Menschen gerade in ihrer Verschiedenartigkeit. Vielgestaltige Identitäten sind zu versöhnter Verschiedenheit in der Lage. Aber es müssen Identitäten sein. Nur die Kraft der Liebe, der Versöhnung und des Teilens wird uns in eine Zukunft des Friedens tragen. Materielle Güter, Geld und Gesetze werden dies nicht leisten können. In der Liebe, die sich über Grenzen wagt, sind die Spannungen der Verschiedenartigkeit und wechselseitigen Ergänzung aufgefangen. Rosarote Illusionen tragen nicht in den Herausforderungen unseres Alltags.

Der Apostel Paulus spricht von der Arbeit der Liebe. Sie bewährt sich in den Wirklichkeiten, so wie sie sind. Europa lebt von seinen Menschen. Unser Europa ist um des Friedens und der Menschenwürde und um Gottes Willen jede Mühe wert. Das ist sein Reichtum.

Ich habe auf diesem Weg der Begegnung und Versöhnung gelernt und möchte mir bewahren, was für mich zusammengehört: Versöhnung wagen, zur Identität ermutigen, Schmerz und Trauer über nicht Gelingendes aushalten, Ängste ansprechen, Ergänzung willkommen heißen. Deshalb was mich betrifft, ich möchte weiter wagen, Grenzen zu überschreiten und in aller Mühe Vielfalt und Ergänzung erfahren.
Walter Kriechbaum

Miteinander für Europa160308_Mfe_A6_Postkarte_Seite_1
Europaweit sind über 300 christliche Bewegungen, Gemeinschaften und Kommunitäten miteinander auf dem Weg. Das internationale Netzwerk, in dem evangelische, katholische, anglikanische, orthodoxe und freikirchliche Christen engagiert sind, erstreckt sich auch über Europa hinaus.
Entstanden ist das Netzwerk 1999. 2004 und 2007 trafen sich in Stuttgart mehr als
9 000 Menschen, um ihren Beitrag für die Einheit in Europa zu leisten, 2009 luden in 12 Städten Europas Gemeinschaften und Bewegungen zu Begegnungen ein. 2012 wurde in Brüssel der Dialog mit europäischen Politikern aufgenommen, gleichzeitig traf man sich in 152 Städten zu Austausch, gemeinsamen Initiativen und öffentlichen Kundgebungen.

Mehrfach wurde das Netzwerk für sein ökumenisches Engagement ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit dem Europäischen Sankt Ulrichspreis der Stadt Dillingen.
www.miteinander-wie-sonst.de

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2016)
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