22. Juni 2016

Mit Herz, Sinn und Verstand

Von nst1

Manche Entwicklungen lassen mich am gesunden Menschenverstand, an dem Guten im Menschen zweifeln! Hass- und Gewaltausbrüche, vor allem kollektive, gehören dazu:   Ausraster von Jugendlichen gegen Unschuldige, Gewaltorgien von Hooligans, fremdenfeindliche Attacken. Erschreckt hat mich auch die Präsidentschaftswahl am 9. Mai auf den Philippinen: Sieger wurde der 71-jährige Rodrigo Duterte, ein philippinischer „Trump“. Er will für eine Reihe von Verbrechen die Todesstrafe einführen und auf Kriminelle schießen lassen; Beleidigungen, vulgäre Äußerungen und Prahlen mit seinen sexuellen Leistungen gehören zu seinem Repertoire.

Große Fragen tun sich auf, wenn wir auf die Rüstungsexporte unserer Länder schauen. Warum verkaufen wir Waffen an Staaten, die Menschenrechte mißachten? Das wollten wir vom Friedens- und Konfliktforscher Bernhard Moltmann wissen. Unterm Strich bleibt der Eindruck, wirtschaftliche Vorteile schlagen ethische Bedenken. Um Lebensstandard und Arbeitsplätze zu sichern, nehmen wir bei anderen Völkern Krieg, Leid und Tod in Kauf.

Sorgen macht die Entwicklung in Venezuela, wo die Regierung hart gegen Oppositionelle vorgeht, Strom und Nahrungsmittel rationiert. Das Land durchlebt wie Brasilien nach dem Preisverfall von Rohstoffen wie Öl die schwerste Wirschaftskrise seit Jahrzehnten. Brisant in Brasilien: Der Senat will die Präsidentin loswerden und hat sie für ein halbes Jahr kaltgestellt.

Bei all den Hiobsbotschaften ist es ein Trost, wie viele Menschen sich für bessere Verhältnisse engagieren: gegen die Einsamkeit von Senioren, damit Kinder geborgen aufwachsen, um die Umwelt zu schützen, den Frieden und das Miteinander zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen zu fördern. In der „Woche der geeinten Welt“ haben Tausende Jugendliche weltweit ihre Aktionen gebündelt, um ihren vielfältigen Einsatz sichtbarer zu machen.

Mut macht auch das Engagement von Maurice Joyeux, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Griechenland. NEUE STADT-Kollegen verschiedener Länder sind ihm in Athen begegnet. Ihnen hat er seine Gedanken zum Umgang mit Menschen auf der Flucht, aber auch mit Flüchtlingshelfern weitergegeben. Dabei bezieht er sich auf Etty Hillesum, Niederländerin mit jüdischen Wurzeln, die 1943 in Auschwitz ermordert wurde. Wie sie in den Baracken des KZ das „denkende Herz“ war, will auch er es in den Flüchlingscamps und an den Grenzzäunen sein.

„Denkende Herzen“ – stelle ich mir vor – haben nicht nur den eigenen Vorteil im Blick, sondern sind einfühlsam gegenüber den Nöten anderer und packen mit an, um sie zu lindern. Sie schauen nicht nur bis zum eigenen Kirchturm, sondern haben Weitblick und ein offenes Herz. Das nutzen sie aber auch mit Sinn und Verstand, durchschauen die unterschiedlichen Interessen und lassen sich nicht über den Tisch ziehen.

„Denkende Herzen“ können wir überall sein. Selbst dort, wo wir am gesunden Menschenverstand und an dem Guten im Menschen zweifeln.
Ihr

Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2016)
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