18. Juli 2016

Lassen wir uns nicht abzocken!

Von nst1

Dass man mit seinen Kaufentscheidungen wirklich etwas bewirken kann, zeigt eindrucksvoll die Slotmob-Bewegung in Italien. Seit drei Jahren macht sie gegen das dort weit verbreitete Glücksspiel mobil und hat einiges angestoßen.

Coggiola ist mit seinen nicht einmal 2000 Einwohnern ein kleiner Ort im Piemont, einer Region im Nordwesten Italiens. Wie überall auf dem „Stiefel“ gibt es auch hier die typischen Bars. Sie sind meist hell und einladend, zur Straße hin offen und man findet sie an jeder Straßenecke. Die Bar ist eine Institution in Italien: Sie kann als Treffpunkt dienen, als Stammkneipe, als Schnellimbiss oder einfach als Ort, an dem man auf die Schnelle sein Frühstück einnimmt, das meist nur aus einem Cappuccino und der traditionellen Brioche, ähnlich dem französischen Croissant, besteht.

Fotos: Città Nuova

Fotos: Città Nuova

Zu bestimmten Zeiten ist der Andrang in den Bars größer, dann muss man schon auch mal eine kurze Wartezeit in Kauf nehmen, bevor man seinen Caffè (außerhalb Italiens „Espresso“ genannt) genießen kann. Aber so etwas wie am Nachmittag des 7. Mai in Coggiola sieht man auch in großen Metropolen selten: Hunderte standen auf der Straße vor dem „Caffè Anna“ Schlange. Anlass dafür war ein so genannter „Slotmob“: Weil es die einzige Bar im ganzen Ort ist, in der keine Glücksspielautomaten aufgestellt sind, hatten Organisationen aus der Region dazu aufgerufen, das „Caffè Anna“ an diesem Nachmittag durch einen Besuch zu ehren.
In Italien scheint das Glücksspiel allgegenwärtig. Nach Schätzungen stehen etwa 400 000 Spielautomaten in Bars und den vielerorts neu entstehenden Spielhallen; das sind doppelt so viele wie im US-Bundesstaat Nevada. Auch in den Espresso-Bars sind vermehrt Spielautomaten zu finden. Und obwohl Italien schon seit Jahren tief in der Krise steckt, wächst die Popularität der Glücksspiele.

Die Italiener sparen bei Reisen, Kleidern und Restaurants, aber nicht bei Rubbellosen, Lotto, Lotterien und Spielautomaten. 2015 gaben sie nach offiziellen Angaben 88 Milliarden Euro für Glücksspiele aus, das sind fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Besonders beliebt sind Rubbellose, für die gut 800 Millionen Euro ausgegeben wurden.
Das Glücksspiel ist ein einträgliches Geschäft, auch für die Barbesitzer, die Rubbellose verkaufen und Spielautomaten aufstellen. Und selbstverständlich profitiert auch die Staatskasse von den Umsätzen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Spielsüchtigen aber dramatisch, man schätzt sie derzeit auf 800 000. „Das Glücksspiel zerstört unsere Städte und ruiniert die Menschen, die Familien, das soziale Umfeld. Es drängt die Betroffenen in die Isolation,“ beschreibt eine Gruppe von Jugendlichen der Fokolar-Bewegung aus Rom die Situation. „Die großen Multinationalen machen einen Riesengewinn; der Staat schaut weg, weil auch er durch die Steuereinnahmen zu den Gewinnern zählt.“

Foto: Città Nuova

Foto: Città Nuova

Im Sommer 2013 beschlossen die Jugendlichen, nicht länger nur zuzuschauen, sondern etwas zu unternehmen. Ihre Idee war einfach: Sie wollten jene Barbesitzer belohnen, die keine „Slot-Machines“ (dt.: Spielautomaten) aufstellen, und sich nur noch bei diesen ihren Caffè kaufen. Und sie wollten möglichst viele Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kollegen, Mitschüler und Studenten wie bei einem Flashmob dazu bewegen, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesen Bars einzufinden: Der so genannte Slotmob war geboren!

Die Idee der Jugendlichen fand Resonanz. Das Problem und seine gesellschaftlichen Auswirkungen war nicht nur ihnen bewusst. Große Tageszeitungen wie „Avvenire“, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Verbände und Organisationen wiesen schon lange auf die Gefahren hin. Auch manche Barbesitzer hatten sich bewusst entschieden, keine Glückslose zu verkaufen und keine Spielautomaten aufzustellen. „Ich wollte nicht mehr zusehen, wie die Menschen sich dabei ruinieren und keine Zeit mehr für Gespräche haben“, erzählt die Besitzerin des „Caffè Anna“ aus Coggiola. Dafür nahm sie auch finanzielle Einbußen in Kauf.
Dachten die Jugendlichen aus Rom am Anfang nur an Aktionen in der Hauptstadt selbst und über Freunde auch in Mailand, staunten sie dann, wie schnell ihre „fast naive Idee“ Menschen von Nord bis Süd begeisterte. Eine regelrechte Slotmob-Bewegung entstand. Seitdem wurden fast 200 Slotmobs durchgeführt, an denen sich mehr als 15 000 Menschen beteiligt haben. Über 200 Organisationen haben sich angeschlossen und ein Thesenpapier verabschiedet. Darin formulieren sie ihre Forderungen und ihre Sorgen zu den Auswirkungen der Spielsucht.

12800199_1052656558134694_8246919824792967207_n„Wir wollen nicht die treffen, die spielsüchtig sind“, unterstreicht Luigino Bruni, Wirtschaftsprofessor an der LUMSA-Universität in Rom, „auch wenn wir ihnen natürlich helfen wollen. Wir wollen vor allem die Strukturen verändern, die Menschen in die Abhängigkeit treiben. Und wir wollen auch nicht die Barbesitzer verurteilen, die sich aus unterschiedlichen Gründen dafür entschieden haben, Automaten aufzustellen. Wir wollen diejenigen auszeichnen und unterstützen, die sich bewusst dagegen entscheiden.“

Die Organisationsstrukturen der Slotmob-Bewegung sind minimal. Regionale Komitees stoßen die Aktionen an. „In Rom haben wir unsere Kräfte zunächst auf ein Viertel konzentriert, das den Beinamen ‚Das italienische Las Vegas‘ trägt“, erzählt Maria Chiara. „In kurzer Zeit haben sich sieben örtliche Verbände miteinander vernetzt, die alle das Glücksspiel bekämpfen wollen. Wir haben eine großartige Beziehung zueinander gefunden und arbeiten reibungslos zusammen.“
Die Vernetzung zwischen den Regionen und Aktionen läuft über eine Facebook-Seite, www.facebook.com/Slotmob. Dort werden auch neue Ideen weitergegeben. Wie etwa die, Slotmobs mit einer Einladung zum gemeinsamen Spiel zu kombinieren: vom Billard bis zu Tischtennis-Turnieren, „alles was zeigt, dass miteinander spielen einen Mehrwert hat, den Automaten nicht bieten können“, so Luigino Bruni.

Foto: Città Nuova

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Aus dem gemeinsamen Einsatz entstanden neue Projekte, in Rom etwa „Non Azzardiamoci“ (dt.: Lassen wir uns nicht abzocken!). Dafür gingen die Jugendlichen auf jüngere Schüler zu und holten ganze Schulen ins Boot. „Es war gar nicht so einfach“, erzählt Maria Chiara, „die Schüler davon zu überzeugen, dass die kleinen, alltäglichen Entscheidungen doch etwas bewirken können. Und dass wir damit auch ungerechte Situationen verändern können.“
Maria Chiara empfindet die „Slotmob-Erfahrung“ für sich als Geschenk: „Wir begegnen vielen Menschen, vielen Geschichten, die deutlich machen, wie groß die Wunde des Glücksspiels in unserer Gesellschaft ist. Bei einem Slotmob hatte uns ein Mann geholfen, Spiele für die Kinder zu organisieren. Auf einmal nahm er das Mikrofon und sagte vor allen: ‚Mein Leben besteht aus Licht und Schatten. Was mich zu den Spielautomaten treibt, ist die Einsamkeit, aber jetzt fühle ich mich nicht mehr allein. Ich verspreche, dass ich nie wieder spielen werde. Falls es doch geschieht, und einer von euch mich dabei ertappt, dann hat er das Recht, mich beiseite zu nehmen und mich an dieses Versprechen, das ich euch heute gebe, zu erinnern.’ Das war sehr bewegend!“

Foto: Città Nuova

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Bewegt haben sich auch andere: So konnte die Slotmob-Bewegung zwei Gesetze stoppen, die es den Bürgermeistern in Italien verwehrt hätten, das Glücksspiel in ihrer Stadt durch eigene Beschlüsse einzugrenzen. Und in Süditalien haben Jugendliche der Fokolar-Bewegung mit ihrer Initiative „Bringen wir uns ins Spiel“ eine breite öffentliche Diskussion über die Spielsucht in Gang gesetzt. Am Ende beschloss die Stadtverwaltung in Catania, dass sie Barbesitzern eine massive Steuervergünstigung gewährt, wenn diese jede Art von Glücksspiel aus ihren Lokalen entfernen. Die Slotmob-Bewegung kann sich auch auf ihre Fahnen schreiben, dass Werbung für Glücksspiele im Fernsehen verboten wurde und sich die Medien ernsthaft mit dem Thema befassen müssen. „Natürlich haben wir noch einen langen Weg vor uns“, ist sich Maria Chiara bewusst. „Wir wollen ja, dass Werbung generell verboten wird und wir wollen eine öffentliche Diskussion darüber, ob man den multinationalen Konzernen das Geschäft mit den Slot-Machines nicht ganz entziehen sollte.“
Zuletzt hatte die Slotmob-Bewegung deshalb am 7. Mai zu Aktionen aufgerufen. Und wie in Coggiola hatten sich zum „Slotmob-Fest“ große Menschenmengen in über 60 Städten auf öffentlichen Plätzen eingefunden. Sie brachten ihr „Ja zu einer anderen Wirtschaft“ lautstark zum Ausdruck und zeichneten jene Barbesitzer mit Preisen aus, die „Nein zum Glücksspiel“ gesagt haben. An einer Plakette können Besucher nun nicht nur im „Caffè Anna“ sofort erkennen, dass sie eine glücksspielfreie Zone betreten.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2016)
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