21. Juli 2016

Zurücktreten, bitte!

Von nst1

Hat der Maler einige Pinselstriche gesetzt, muss er irgendwann von der Leinwand zurücktreten, um das gesamte Bild im Blick zu behalten: Wie wirkt die Farbe? Stimmen die Proportionen? Ohne gelegentlichen Abstand, ohne die kleinen kreativen Pausen wird sein Werk nicht gelingen. Ähnlich wird ein Wanderer im Wald oder in den Bergen Punkte aufsuchen, von denen er die Landschaft überblicken kann: Wo geht es lang? Wo ist mein Ziel? Bin ich auf dem richtigen Weg?

Kerstin und Marcus Leitschuh laden zu solchen „Haltepunkten“ ein: zur Ruhe kommen, Orientierung finden, Kraft tanken. Momente der Stille, innerer Ruhe, vorübergehender Einsamkeit ertragen viele Menschen nur schwer. Dabei können sie Wendepunkte sein: Sie können uns Kraft geben, um unser Leben wieder selbst zu gestalten oder den Kurs zu ändern. Auch Matthäus Appesbacher macht „Mut zur Muße“.

Bin ich ein guter Vater, eine gute Mutter? Fördere ich mein Kind genug? Viele Eltern stressen sich, weil sie in der Erziehung perfekt sein wollen. Niemand hat jedoch alle Einflüsse auf sein Kind im Griff. Auch hier wieder: Gelassenheit! Dazu ermutigt die Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Tschöpe-Srcheffler: Scheitern zulassen, zu den Grenzen stehen, sich nicht allein auf die eigenen Fähigkeiten verlassen, sondern sich Unterstützung holen, die Gemeinschaft „miterziehen“ lassen – das sind einige ihrer Anregungen.

Schwierig ist es, ruhig und gelassen zu bleiben, wenn Menschen leiden. In Venezuela grassiert der Hunger. Damit sich die Lage verbessert, wäre ein politischer Kurswechsel nötig – meinen wir in unserem offenen Brief an den Staatspräsidenten. Im August ist Rio de Janeiro Austragungsort der Olympischen Spiele. Die Stadt will sich von ihrer Schokoladenseite zeigen. Aber hinter den Kulissen liegt einiges im Argen. Die Kampagnen „Nosso Jogo“ und „Rio bewegt. Uns“ wollen den Finger in die Wunde legen. Sie fordern Fairness nicht nur unter den Sportlern, sondern auch gegenüber Umland und Bewohnern. In Italien werden immer mehr Glücksspielautomaten aufgestellt, die Steuergelder in die Staatskassen spülen, aber auch Existenzen zerstören, denn mit ihnen breitet sich die Spielsucht aus. Bürger wehren sich dagegen mit „Slotmobs“. Was das ist, lesen Sie auf S. 23. Gerade, wenn man sich für andere einsetzt, sind Momente des Abstands, der Erholung nötig.

Aus heiterem Himmel hat es das Ehepaar Pritsch getroffen: Ein Feuer hat ein Teil ihres Hauses zerstört – ein Schock! In den Monaten danach haben die beiden aber auch viel unerwartete Hilfe erfahren und eine neue Dankbarkeit für die kleinen Dinge im Leben entdeckt.

Haltepunkte, Mußestunden, Auszeiten, in denen Sie innehalten, auftanken, neue Klarheit gewinnen können; Gelegenheiten, die Sie zutiefst dankbar machen: Versprechen kann ich nicht, dass Sie das die Sommerwochen über erleben. Aber ich wünsche es Ihnen.
Ihr

Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2016)
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