28. September 2016

„Sie zeigen schon heute, wie es morgen gehen kann.“

Von nst1

Provokation oder Zeichen der Hoffnung? In Zeiten, in denen Europa auseinanderdriftet, fällt ein offenes Bekenntnis zur Staatengemeinschaft auf. 200 christliche Gemeinschaften und Bewegungen aus 32 Ländern haben in München ihre Verbundenheit vertieft und gezeigt: Ihre Erfahrung mit Begegnung und Versöhnung enthält Anregungen für Europas Zukunft.

Wo sonst Clowns und Jongleure, Akrobaten und dressierte Tiere ihr Publikum in den Bann ziehen, geht es am 30. Juni und 1. Juli weniger wild und exotisch zu. Bunt ist es trotzdem im Circus Krone-Bau: 1700 Verantwortliche und Mitarbeiter von 200 christlichen Gruppierungen aus 40 Ländern haben sich in München versammelt. Von Russland bis Portugal; von kleinen, lokal aufgestellten bis zu großen, weltweiten, von gut katholischen bis hin zu freikirchlichen Gemeinschaften und Bewegungen. Viele Sprachen, Konfessionen, Ausdrucksformen des Glaubens: geballte Verschiedenheit.

Im Circus Krone-Bau. - Foto: (c) MfE/Haaf

Im Circus Krone-Bau. – Foto: (c) Ursel Haaf

Das Programm des Kongresses hat es in sich: Ein Rückblick auf die Geschichte des Netzwerks „Miteinander für Europa“, Vorträge, Zeugnisse, Musik, Lobpreis. Nachmittags teilen sich die Teilnehmer auf: am ersten Tag in neunzehn Foren, in denen mehrere Gemeinschaften ein Thema aus der Sicht ihrer Charismen behandeln und sich darüber austauschen. „Versöhnung“, „Solidarität mit Bedürftigen“, „Als Christen in der Wirtschaft“, „Geistliche Bewegungen und verfasste Kirche“, „Evangelisation heute“ sind einige davon. In siebzehn Podien kommen die Bewegungen am zweiten Tag mit Experten aus Kirche, Politik und Gesellschaft ins Gespräch. Publikum aus München und Umland kann dazustoßen. Hier geht es zum Beispiel um Solidarität zwischen den Generationen, Ehe und Familie, ein nachhaltiges Europa, Dialog zwischen Christen und Muslimen.
Am Donnerstagabend heißt es „Manege frei!“ 40 Künstler aus den Reihen der Gemeinschaften interpretieren das Motto „Begegnung. Versöhnung. Zukunft.“ musikalisch, pantomimisch, komödiantisch, akrobatisch, turnerisch und tänzerisch. Die Teilnehmer können sich entspannt zurücklehnen und Zirkusluft schnuppern.

Manege frei. - Foto: (c) MfE/Graf

Manege frei. – Foto: MfE/Graf.

Es ist zwar nicht der erste große, internationale Kongress des Netzwerks, aber seit seinen Anfängen 1999 hat sich einiges getan: Begegnungen und gegenseitige Besuche haben Fremdheit unter den Gemeinschaften abgebaut. Für Vorurteile hat man sich um Vergebung gebeten. Mit einem „Bündnis der gegenseitigen Liebe“ haben die Bewegungen ihre Freundschaft vertieft und sich zu einem gemeinsamen Weg verpflichtet. „Jesus hat uns im Herzen und im Geist eins gemacht“, formuliert Gerhard Proß vom CVJM Esslingen aus dem internationalen Leitungskomitee des Netzwerks am ersten Tag des Kongresses. „Wir sind Schwestern und Brüder, wir sind Freunde geworden und haben die Unterschiede als Reichtum erfahren.“
Wie es dazu gekommen ist, wird in den Worten von Schwester Anna-Maria aus der Wiesche von der Christusbruderschaft Selbitz deutlich. Sie spricht vom Wirken des Heiligen Geistes und der „verwandelnden Kraft des gekreuzigten und auferstandenen“ Jesus: „In der Tiefe des Herzens erwächst aus der Verwandlung ein neues Verhalten. Es geht darum, den anderen höher zu achten als mich selbst und nicht nur auf das zu schauen, was mir guttut, sondern auch auf das, was dem anderen wohltut.“ Darin gelte es zu wachsen. „Unsere Freundschaft soll der Gemeinschaft in Christus entsprechen.“ Das sei ein Prozess, der Früchte im Umgang miteinander hervorbringe und Auswirkungen bis in die Gesellschaft hinein habe.

Die Gesellschaft stecke in einer tiefen Systemkrise, urteilt der Soziologe Michael Hochschild am zweiten Tag. Den neuen geistlichen Bewegungen bescheinigt der Professor für postmodernes Denken aus Paris: „Sie zeigen schon heute, wie es morgen anders gehen könnte!“ Auf dem Weg aus der Krise seien ihr Glaube, ihr Engagement und besonders ihre Zuversicht sehr gefragt, „weil sie das nötige Vertrauen in die Zukunft schaffen.“ Dazu müssten sie aber mehr soziale Bewegung werden, fordert Hochschild: „Sie müssen sich stärker als bisher als kulturelle Gestaltungskräfte verstehen und entsprechend verhalten.“ Ein „Miteinander für Europa“ reiche allerdings nicht aus; es brauche ein Miteinander für die ganze Welt.

Bühnenprogramm während des Kongresses. Sr. Nicole Grochowina, Christusbruderschaft Selbitz, und Thomas Römer, CVJM München. - Foto: (c) MfE/Graf

Bühnenprogramm während des Kongresses. Sr. Nicole Grochowina, Christusbruderschaft Selbitz, und Thomas Römer, CVJM München. – Foto: (c) MfE/Graf

Herbert Lauenroth, Kulturwissenschaftler am Ökumenischen Lebenszentrum in Ottmaring bei Augsburg, deutete die Situation in Europa als Reaktion der Angst und Unsicherheit auf ein Gefühl existenzieller Enge. Die Angst könne jedoch zur Lernerfahrung werden: „Es geht darum, das Unbekannte, Fremde und Randständige zu bevorzugen als Lernort des Glaubens.“ Durch die Auseinandersetzung mit den Abgründen, denen die Gesellschaft gerade begegne, sei eine Neuorientierung auf die Quellen des Glaubens möglich. Gott bewirke Entängstigung; das sei die Basis für eine neue, notwendige Kultur des Vertrauens in Europa.

Als die Verantwortlichen der Gemeinschaften im Mai 2014 mit den Planungen für den Münchner Kongress begannen, war die Welt in Europa noch in Ordnung. Das war noch vor den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Paris und Brüssel mit zahlreichen Todesopfern. Zwar stieg die Zahl der Flüchtlinge schon an, aber noch nicht so dramatisch wie 2015, als die Flüchtlingsströme zur politischen Krise führten. Jetzt, eine Woche, nachdem über die Hälfte der Briten in einem Referendum für einen Ausstieg ihres Landes aus der EU gestimmt hatte, setzt eine Veranstaltung „für Europa“ einen auffälligen Kontrapunkt. Die Medien berichten stärker und positiver darüber als über vergangene Veranstaltungen des Netzwerks.

Kundgebung am 2. Juli 2016 auf dem Karlsplatz in München. - Foto: (c) MfE/Grill

Kundgebung am 2. Juli 2016 auf dem Karlsplatz in München. – Foto: (c) MfE/Grill

5000 Teilnehmer finden sich am 2. Juli auf dem „Stachus“, dem Karlsplatz in München ein: eine Kundgebung mitten in der Stadt. Damit zeigen die Gemeinschaften: Wir genügen uns nicht selbst, gehen raus, setzen uns ein für die Gesellschaft – wir haben etwas zu geben.
Auf einer Bühne am Nachmittag ein kurzweiliges Programm: Tanz, Musik, Gesang, Gebet, Ansprachen, Erfahrungsberichte, Interviews. Passanten bleiben neugierig stehen, gerade wenn sie Beispiele von Versöhnung hören. Zwei evangelische Pfarrer, ein russischer aus der Nähe des ehemaligen Stalingrad und ein deutscher aus Baden, berichten von Begegnungen in Russland. Dorthin hatten sich Christen aus Deutschland auf den Weg gemacht: „Sie haben uns Russen für die deutschen Sünden im Zweiten Weltkrieg um Vergebung gebeten, haben alte, tiefe Wunden berührt. Tränen haben unsere Seelen gewaschen. Herzen sind geheilt worden.“
Neben der Bühne ist ein Durchgangstor aufgebaut, mit Brettern vernagelt. Bei jedem Bericht über Vergebung, Versöhnung, Begegnung wird ein Brett entfernt: Symbol, dass Schritte wie diese den Weg für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Religion und Nationalität frei machen.

miteinander_fuer_europa_logo_2011_4cMartin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, der Generalsekretär des Europarates Thorbjørn Jagland und die UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova haben die Schirmherrschaft übernommen und Grußworte geschickt. Der Papst erscheint auf einer Videoleinwand mit einer Botschaft: „Wenn ganz Europa eine Völkerfamilie sein möchte, muss es die Person in den Mittelpunkt stellen, ein offener und einladender Kontinent sein und weiterhin Formen der Zusammenarbeit verwirklichen, nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene“, so Franziskus. „Bewahrt die Frische eurer Charismen! In einem Europa, das aus vielen Nationen besteht, bezeugt ihr, dass wir Kinder eines Vaters und Brüder und Schwestern untereinander sind. Ihr seid kostbares Saatkorn der Hoffnung, damit Europa seine Berufung wiederentdecken und so zur Einheit aller beitragen kann.“ Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. erinnert in einem Video an seinen Vorgänger Athenagoras, der bei Schwierigkeiten und Problemen sagte: ‚Komm, schauen wir einander in die Augen!’ „Wir beten und hoffen, dass ihr euch an diese weisen Worte erinnert, wann immer die Welt uns vor Herausforderungen stellt, die uns spalten und der Gemeinschaft, dem Miteinander entziehen wollen“, so das Ehrenoberhaupt der orthodoxen Kirchen. „Denn in den Augen unserer Brüder und Schwestern sehen wir die Herrlichkeit Gottes.“

Vertreter unterschiedlicher Kirchen und geistlicher Gemeinschaften bitten einander um Vergebung und . - Foto: (c) MfE/Grill

Vertreter unterschiedlicher Kirchen und geistlicher Gemeinschaften bitten einander um Vergebung. – Foto: (c) MfE/Grill

Landesbischof Frank Otfried July aus Stuttgart, der rumänisch-orthodoxe Metropolit Serafim Joanta und Kardinal Kurt Koch aus Rom geben Einblick, wo sie Fortschritte in der Einheit unter den Kirchen sehen und worunter sie noch leiden. Zusammen mit Gerhard Proß und Schwester Anna-Maria aus der Wiesche tauschen sie den Friedensgruß aus und besiegeln ihn mit Umarmungen, um auszudrücken, dass sie als Vertreter unterschiedlicher Konfessionen einander um Verzeihung bitten, sich vergeben und versöhnen. „Dieses Zeichen wollen wir miteinander nicht mehr vergessen“, erklärt July. Die 5000 Teilnehmer der Kundgebung, Bischöfe unterschiedlicher Kirchen, Verantwortliche und Mitglieder der Gemeinschaften aus vielen Nationen, tun es ihnen nach. Versöhnung ist der Schlüsse

Versöhnung - Schlüssel auch für das Miteinander in Europa. - Foto: (c) MfE/Haaf

Versöhnung – Schlüssel auch für das Miteinander in Europa. – Foto: (c) MfE/Haaf

l zu einer besseren Zukunft. Zur Erinnerung, dass jeder in seinem Umfeld dazu beitragen kann, werden symbolische Schlüssel verteilt.

Es macht Spaß, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx, die die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland repräsentieren, bei ihrem gemeinsamen Auftritt zuzusehen. Frei von der Leber weg reden sie über Unterschiede und Gemeinsamkeiten und das 500-jährige Reformationsjubiläum im kommenden Jahr. Ihr Umgang miteinander veranschaulicht, wie stark die Freundschaft unter den Kirchen gewachsen ist. Die Kirchenmänner betonen, dass Christus ihre gemeinsame Mitte ist. Sie beziehen Mut und Hoffnung aus dem, was sie unter den christlichen Bewegungen erleben, so wie auch ihr Zeugnis das Netzwerk zuversichtlich macht und ermutigt.

Foto: (c) MfE/Grill

Glaube an Christus als ihr gemeinsames Fundament: Vertreter unterschiedlicher geistlicher Gemeinschaften und Kirchen mehrerer Länder Europas demonstrieren Einmütigkeit. – Foto: (c) MfE/Grill

„Wir sind die Botschaft an diese Stadt“, bringt es Pater Heinrich Walter von der Schönstatt-Bewegung auf den Punkt, als Vertreter der Gemeinschaften in ihrer ganzen Vielfalt auf die Bühne steigen, um sich zu Christus zu bekennen, zu einer Kultur des Respekts und der Wertschätzung in Europa, zur Überwindung der Trennungen. Er bezieht sich auf ihre erkämpfte und doch geschenkte Freundschaft und die gewachsene, tragfähige Solidarität: „Wir sind die sichtbare, erlebbare Botschaft auch für ganz Europa. Wir sind ein lebendiges Zeugnis dafür, dass mehr Miteinander, Versöhnung und Einheit möglich ist, als viele denken.“
Clemens Behr

Aus der Botschaft von München:

Unsere Verpflichtung

  • Wir leben mit dem Evangelium von Jesus Christus und bezeugen es in Wort und Tat.
  • Wir gehen den Weg der Versöhnung und helfen mit, dass unsere Gemeinschaften, Kirchen, Völker und Kulturen „in Vielfalt geeint“ leben können.
  • Wir begegnen Menschen anderer Weltanschauung und Angehörigen anderer Religionen mit Respekt und suchen das offene Gespräch.
  • Wir setzen uns dafür ein, dass Mitmenschlichkeit und Frieden auf der Welt wachsen.
  • Wir haben die Vision eines Miteinander in Europa, das stärker ist als jede Angst und jeder Egoismus.
  • Wir vertrauen auf den Heiligen Geist, der die Welt ständig erneuert und belebt.

www.together4europe.org/de
www.miteinander-wie-sonst.org

Wie kann es vor Ort mit dem „Miteinander für Europa“ weitergehen? Tipps, wie Sie die Gemeinschaft unter den Bewegungen stärken oder eine gemeinsame Veranstaltung gestalten können, sind auf der Unterseite www.together4europe.org/de/attiva-la-tua-citta zusammengestellt unter dem Titel „Bringen Sie Ihre Stadt in Bewegung“.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2016)
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