19. Oktober 2016

Scheiden tut weh

Von nst1

Abschiednehmen gehört zum Leben dazu: tragisch oder bereichernd?

Die wenigsten Abschiede und Trennungen im Leben bestimmen wir selbst. Sie brechen über uns herein. Das hat seit früher Kindheit dazu geführt, dass in uns ein Bodensatz an Erinnerungen und Bereitschaften schlummert. Bei bestimmten Anlässen – ein neuer Verlust, ein Jahrestag – wird er aufgewirbelt.

Da ist etwa die Aggression (D. W. Winnicott): Ein Mensch, der ein Objekt verliert, verinnerlicht es, und in der inneren Welt ist es seinem Hass ausgesetzt. Mal mehr, mal weniger. Schlägt der lauernde Hass wieder zu, kommt die Depression. Beim Gesunden klingt Hass allmählich ab und man ist befreit; auch Trauern-Können ist ein Zeichen von Reife.

Oft wird das Verschwinden des Anderen als eigenes Versagen gesehen. Man fühlt sich wertlos. Wenn qualvolles Scheitern mit fehlender Kommunikation einhergeht und unbesprochen bleibt, kann sogar eine antisoziale Tendenz entstehen: bei Stalkern etwa; oder wenn Kinder stehlen – eigentlich suchen sie nach etwas Verlorenem. Die Trennungsangst ist ein anderes Phänomen: nicht loslassen können aus Angst, nicht zu überleben, oder vor der ungewissen Zukunft.

Mich berührt die Vorstellung, dass es für jede Handlung, jeden Gedanken, jede Begegnung ein letztes Mal gibt: Ob es der letzte Schluck Wasser ist, eine Arbeit, die ich tue, eine Musik, die ich höre, den Baum, den ich sehe, der geliebte Mensch, dem ich etwas sage. Das ist nicht nur tragisch, sondern auch schön, gibt allem seine Einmaligkeit. Es ist Leben. Wir können Abschied und Trennung auch lernen. Ja, alles ist vergänglich. Der Wind weht es weg und weht es her (K. Luttringer). Wollen Sie gemeinsam mit mir täglich ein wenig üben? Etwas, an dem ich hänge, weggeben. Etwas, das zu mir drängt –  Bilder, Angebote oder Anfragen, eigene Gedanken und Handlungsimpulse  – nicht annehmen. Etwas Neues probieren, mit Neugier.
Dorothea Oberegelsbacher

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2016)
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