16. November 2016

Das Geheimnis der größten Liebe

Von nst1

Trauer. Eine schwere Krankheit. Ein Unfall. Der Verlust eines lieben Menschen. Keiner bleibt vor solchen Ereignissen verschont. Und so manchem kommt dann die Frage: Und wo ist da Gott? – Auszüge aus einem Buch 1 mit Texten von Fokolar-Gründerin Chiara Lubich (1920-2008), die zu einer neuen Begegnung einladen.

Eine ganz persönliche Erfahrung liegt diesen Texten zugrunde, eine Entdeckung, nicht in einem exklusiven Sinne, wohl aber im Sinne eines unerwarteten Findens oder Gefunden-Werdens. Vielleicht würde man statt Entdeckung besser sagen: eine Begegnung. Eine Begegnung, die sogar dann, wenn sich äußerlich nichts verändert oder ändern lässt, doch alles verändert: die Begegnung mit dem gekreuzigten und verlassenen Jesus, mit dem menschgewordenen Sohn Gottes, der in der Gottverlassenheit am Kreuz stirbt.
(aus dem Vorwort)

Eines Tages kam eine sehr engagierte Person zu mir, die eine Gruppe junger Leute betreute. Es war ihr gelungen, die Jugendlichen durch Treffen in der Freizeit, durch gemeinsames Musizieren und interessante Geschichten für den Glauben zu begeistern. Sie fragte mich, ob ich den Jugendlichen etwas erzählen könnte. Ich sagte zu. „Aber worüber werden Sie sprechen?“, wollte sie wissen. – „Über die Liebe.“ – „Und was ist die Liebe?“, fragte sie neugierig nach. – „Der gekreuzigte Jesus“, antwortete ich …
Damals war es in den traditionell geprägten kirchlichen Kreisen, aus denen wir kamen, nicht üblich, von der Liebe zu sprechen. Schon gar nicht konnte man sich vorstellen, dass es gut für das Apostolat wäre, gleich über den Gekreuzigten zu reden. Aber hat Jesus nicht gesagt, er werde alle an sich ziehen, wenn er am Kreuz erhöht ist? 2
Ich muss gestehen, dass ich bis heute nicht weiß, wer mir diese Definition der Liebe in den Mund gelegt hat. Die Liebe, das ist der Gekreuzigte, der sich „für uns“, „für mich“ hingegeben hat, wie Paulus schreibt. 3
„Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ 4. Was Paulus hier sagt, kann jeder auf sich selbst beziehen: „Für mich“ hat Christus sich hingegeben.

Jesus, wenn du für mich gestorben bist, wie könnte ich an deiner Großmut zweifeln? Wenn ich glauben darf, dass du, der Sohn Gottes, für mich gestorben bist, wie sollte ich nicht alles daransetzen, um auf diese Liebe zu antworten? Für mich … Ein Wort, das die Einsamkeit der Einsamsten überwindet. Ein Wort, das jedem Menschen eine erhabene Würde zuspricht, gerade den Geringsten und Verachteten. Ein Wort, das uns ergreift und mit überströmender Freude erfüllt …
Für mich, Herr, all diese Schmerzen? Für mich dein Schrei am Kreuz?

Allzeit denkst du an mich, als ob es nur mich gäbe – und genauso an jeden anderen. Das gibt uns – mehr als alles in der Welt – Kraft und Mut, als Christen zu leben.
Für mich … All das für mich.
Herr, so gib, dass ich in der Zeit, die mir noch bleibt, dir sagen kann: „Für dich!“
An vielen Orten habe ich dich gefunden, Herr! Ich spürte deine Nähe in der Stille einer Bergkapelle, vor dem Tabernakel im Halbdunkel einer leeren Kathedrale, in der Einmütigkeit einer Gemeinde, die dich liebt und die Gewölbe deiner Kirche mit ihren Liedern und ihrer Liebe erfüllt. Ich fand dich in der Freude; ich sprach mit dir, der du jenseits des Sternenhimmels wohnst, wenn ich am Abend nach der Arbeit schweigend nach Hause ging. Ich suche dich und finde dich oft. Immer aber finde ich dich im Schmerz. – Ein Schmerz, gleich welcher Art, ist wie der Klang einer Glocke, die zum Gebet ruft … Wenn der Schatten des Kreuzes naht, sammelt sich meine Seele im Tabernakel meines Innern. Sie vergisst den Klang der Glocke; dich sieht sie, mit dir spricht sie. Du bist es, der zu mir kommt. Und ich antworte dir: „Herr, da bin ich …“ In dieser Begegnung spürt meine Seele nicht ihren Schmerz; sie ist erfüllt von deiner Liebe: umhüllt von dir, durchdrungen von dir …
Dann öffne ich die Augen wieder für das Leben, für jenes Leben, das nicht das endgültige ist, und von deiner göttlichen Kraft gestärkt, stelle ich mich neu in deinen Dienst.

1) Aus: Chiara Lubich, der verlassene Jesus. Meditationsimpulse über das Geheimnis der größten Liebe. Verlag Neue Stadt 2016
2) vgl. Johannes 12,32
3) Epheser 5,2
4) Galater 2,20

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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