18. November 2016

Ein „Problem“ bekommt Gesichter

Von nst1

Was passiert, wenn aus Meldungen in Nachrichtensendungen Namen werden, erlebten Jugendliche aus Europa und dem Nahen Osten diesen Sommer bei einem Aufenthalt in einem Flüchtlingscamp in Jordanien.

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht. Die Flüchtlingsfrage bewegt. In Europa ist sie in fast jeder Nachrichtensendung Thema. Und weil das so ist, werden aus Menschen einfach bloß Zahlen. Doch was geht vor Ort vor? Wo kommen die Menschen her und was bewegt sie zur Flucht? Wie ist das im Nahen Osten? – Fragen wie diese waren der Auslöser für ein Projekt, das im vergangenen August eine Gruppe von 55 Jugendlichen aus verschiedenen Ländern Europas und des Nahen Ostens sowie einige aus den USA, Argentinien und Neuseeland nach Jordanien führte, in ein Land, das sieben Millionen Einwohner hat und in den letzten Jahren fünf Millionen Flüchtlinge aufnahm.

Zwölf Tage verlebten die jungen Leute dort in Madaba, 35 km südlich der Hauptstadt Amman. Sie wohnten in Containern, in denen bis vor Kurzem noch irakische Flüchtlinge gelebt hatten. „Das war beeindruckend“, sagt Áine aus Irland. „An der Wand neben meinem Bett hingen noch zwei kleine Bilder, die aus Müsli-Packungen ausgeschnitten wurden.“

Das Thema Flucht aus anderen Blickwinkeln kennenlernen, die Grenzen der eigenen Kultur und Lebensweise überschreiten und vor Ort Vorurteile abbauen, mediale Wege nutzen, um das Erlebte weiterzugeben – so die Ziele des Projekts „Host-Spot“ 1, das diesen Austausch ermöglichte. Träger ist der Verein „Starkmacher“ 2 zusammen mit neun Nichtregierungsorganisationen in verschiedenen Ländern; gefördert wird es im Erasmus+ Programm der Europäischen Union.

Aber was passiert, wenn man junge Leute aus dem Nahen Osten mit Altersgenossen aus Europa zusammenbringt und sie sich dann in eine derart komplexe Situation begeben? „Eine der stärksten Erfahrungen“, so Sören, der „Philosophy & Economics“ in Bayreuth studiert, „war zu sehen, wie ähnlich wir Menschen uns sind, unabhängig davon, welcher Religion man angehört oder ob man aus dem Nahen Osten oder Europa kommt. Viele von uns sind mit der Sorge angereist, missverstanden und mit Vorurteilen konfrontiert zu werden.
Stattdessen wurde eine Nähe deutlich, die durch ehrliches Bemühen um Verständnis, von beiden Seiten, entstand.
Durch Zuhören, Nachfragen, gemeinsames Essen und viel Lachen. So sind Freundschaften entstanden, ist die Distanz zwischen dem Nahen Osten und Europa für mich spürbar zurückgegangen.“

Besuche bei syrischen und irakischen Familien, die auf ihre Ausreise-Dokumente warten, haben die Jugendlichen bewegt: „Das Flüchtlingsproblem“ bekam Namen und Gesichter. Begegnungen mit Mitarbeitern der Caritas Jordanien, dem Nuntius vom Irak und Jordanien und einem Islamprofessor aus Amman ermöglichten Einblicke in die komplexe kulturelle, geschichtliche und politische Situation. Zusätzlich informierten sich die Jugendlichen gegenseitig über die Flüchtlingspolitik ihrer Herkunftsländer, darüber, wie man dort „die Flüchtlingsfrage“ bewertet, welche Emotionen im Spiel sind und wie die Berichterstattung aussieht. „Wir Deutschen haben uns einen Abend dann noch mal mit den Ungarn zusammengesetzt“, erklärt Mathias Kaps, Vorsitzender vom Starkmacher-Verein, „nachgefragt, zugehört, erklärt.“

Die Jugendlichen packten auch mit an, setzten Zeichen der Solidarität: Jeden Nachmittag verbrachten sie in zwei Schulen mit Kindern von syrischen und irakischen Familien. Sie gestalteten ein Basketballfeld und verschönerten die grauen Mauern rund um einen Spielplatz. Ein wenig Sonne, Farbe bringen und die Gesichter zum Leuchten – auch wenn ihnen das nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein schien. Vielleicht hat sie deshalb die Aussage von Wael V. Suleiman, Generaldirektor der Caritas Jordanien, besonders getroffen. Auf ihre Frage, warum seine Mitarbeiter sich so unermüdlich und aufopferungsvoll einsetzen, erklärte er: „Unsere Augen sehen Krieg, Zerstörung, Tod, Hass, Gewalt, Konflikte und Spaltungen. Aber unser Herz blickt in die Zukunft und sieht eine Menschheitsfamilie ohne Armut, Hunger und Hass. Die Zukunft ist wie ein wunderbares Mosaik. Wir wissen nicht, wann es sich verwirklicht, aber wir arbeiten jetzt daran und wollen weiterarbeiten, bis es Wirklichkeit ist.“

Während ihres Aufenthalts konnten die Jugendlichen ungefiltert die Geschichten und Hoffnungen der Familien teilen, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Das wollen sie aber nicht für sich behalten. Angefangen haben sie noch in Madaba: Über eine Facebook-Seite berichteten sie täglich und luden zu Live-Chats ein. Kristóf, Arabistikstudent aus Ungarn, will Fotograf werden. Seit seiner Rückkehr hat er schon zwei Ausstellungen organisiert: „Die meisten meiner Fotos zeigen glückliche, persönliche Momente, die uns in Europa helfen, uns den Menschen dort näher zu fühlen. Sie spielen genauso mit den Kindern wie wir. Diese Fotos sind Leben – und sie sagen viel über diese Familien voller Hoffnung.“
Gabi Ballweg

1) www.facebook.com/hostspot9
2) Starkmacher.eu – speziell das Projekt Host-Spot

Priska Epping, 19, studiert in Köln Medienkulturwissenschaften mit Englisch und war mit in Jordanien. Wie das für sie war und was sie sich mitgenommen hat:
„Als ich meine Sachen gepackt habe, wusste ich nicht wirklich, was mich erwarten würde. Rückblickend war das vermutlich das Beste, was ich hätte tun können: Nichts erwarten. Sich nicht groß vorbereiten, um nicht schon mit Vorurteilen über das Land, die Menschen und unsere Arbeit dort anzukommen. Also bin ich losgeflogen mit dem Wunsch, etwas über Jordanien, die Flüchtlingskrise und über mich selbst zu erfahren.

In Madaba haben wir Flüchtlingsfamilien besucht, ihre Geschichten gehört und die beeindruckende Arbeit der Caritas Jordanien für die Flüchtlinge kennengelernt. Ein besonders wichtiger Aspekt des Host-Spot-Programms war für mich der Austausch mit den anderen Jugendlichen, jeder mit einem anderen Hintergrund und einer persönlichen Sicht auf die Situation. Ein Teilnehmer aus Palästina hat mir erzählt, dass er viele medial geprägte Vorurteile über Europäer im Allgemeinen und Deutsche im Besonderen im Kopf hatte. Genau so, wie wir auch ein bestimmtes Bild über „den Osten“ im Kopf haben. Aber dann hat er mir erzählt, dass durch die Gelegenheit, uns kennenzulernen, sich viele seiner Vorurteile nicht bewahrheitet haben. Er sagte, er sei überrascht, wie offenherzig und empathisch wir seien. Und ich musste zugeben, dass ich nicht viel wusste über die Konflikte in seinem Land, weil sie mein persönliches Leben bisher nicht so sehr berührt hatten.

Ich bin wirklich dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, nach Jordanien zu kommen und so viel über die Flüchtlingssituation dort, andere Jugendliche und mich selbst zu lernen. Da nicht jeder die Möglichkeit hat, selbst in den Nahen Osten zu fliegen, spielen die Medien eine große Rolle für die öffentliche Meinungsbildung in Europa. Darum ist es mir wichtig, dass wir selbst aktiv werden und die Medienlandschaft, insbesondere das Internet, prägen. Die Online-Welt ist voller Hass; Menschen kämpfen mit Shitstorms oder Cyberbullying. Auf der anderen Seite kann das Internet eine Plattform für Gedankenaustausch und Vernetzung auf der ganzen Welt sein.

Ich muss gestehen, je mehr Zeit verging, umso frustrierter wurde ich. Über die Situation und mich selbst. Die Geschichten dieser Menschen zu hören und selbst gar nichts tun zu können, ist mir sehr nahegegangen. Es ist reine Glückssache, in welchem Teil der Welt du geboren wirst; genauso hätte es uns hier treffen können. Und während all dies scheinbar so weit weg passiert, lebe ich mein Leben in Deutschland und es könnte mir nicht besser gehen. Eines Abends kam ich mit einem anderen Teilnehmer darüber ins Gespräch und er sagte zu mir: „Wir müssen verstehen, dass wir nicht nach Jordanien gekommen sind, um diese Menschen zu retten. Aber wir können ihnen zuhören, ihnen ein warmherziges Lächeln schenken und versprechen, uns für eine Veränderung einzusetzen. Auch wenn das nur kleine Dinge sind, können sie für die Einzelnen viel bedeuten.
Das ist, was für mich die Erfahrung mit Host-Spot ausgemacht hat: Akzeptieren, dass ich nicht in der Position bin, den Konflikt zu lösen. Aber ich kann zu Hause erzählen, was ich gesehen, gelernt und erlebt habe. Ich kann Kontakt aufnehmen zu geflüchteten Familienmitgliedern von Menschen, die ich kennengelernt habe, weil sie in Deutschland sind und Hilfe benötigen. Ich kann meine Ohren und mein Herz öffnen für andere und zuhören. Ich kann etwas verändern, indem ich bei mir selbst anfange.“

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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