18. November 2016

Fürchtet euch nicht!

Von nst1

Feuchte Hände, verkrampfter Nacken, erhöhter Puls – klare Anzeichen von Angst! Vor einer Prüfung im Studium stellten sich die Symptome manchmal ein.

Oder auf der Rückkehr von einer Hochgebirgstour, wenn die Dämmerung aufzog, das Tal aber noch unerreichbar weit unten lag, die Erschöpfung schon groß war und Blasen an den Füßen zusätzlich jeden Schritt zur Qual machten: Was, wenn ich in Eis und Schnee die Nacht verbringen muss – werde ich erfrieren? Ein ähnliches Gefühl aus dem Nichts aufziehender Panik überfiel mich einmal in Südindien: Als ich in einer abgelegenen Stadt unter einer Unmenge von Menschen meine Freunde aus den Augen verlor, die die Sprache kannten und den Weg wussten. Siedendheiß fiel mir auf, wie hilflos und verloren ich war. Und als einziger Weißer fühlte ich mich plötzlich von allen feindselig angegafft!

Im Rückblick denke ich: Die Angst auf dem Berg war berechtigt! Angst ist kein überflüssiges Gefühl. Sie macht uns wachsam für Gefahren, erhöht die Konzentration, schützt vor Unfällen, vor Leichtsinn, treibt uns an, im Notfall letzte Kraftreserven aus uns herauszuholen. Die Angst in Indien dagegen beruhte eher auf meiner Fantasie, was passieren könnte, was eintreten würde, wenn. Ähnlich meiner gelegentlichen Angst als Kind im Dunkel der Nacht, jemand könnte sich in den Raum geschlichen haben, etwas Böses unter dem Bett sein. Wenn ich dann das Licht anknipste und nachsah, war da nichts, kein Grund zur Angst.

Wie ist die Angst in unserer Gesellschaft einzuordnen? Das fragen wir den Marburger Angstforscher Ulrich Wagner. Er beschäftigt sich vor allem mit der Furcht vor Flüchtlingen und sagt: Der direkte Kontakt mit unbekannten Menschen oder Personengruppen kann eine unterschwellige Angst vor ihnen nehmen. Mit der Geschichte aus meiner Kindheit gesprochen: Die unmittelbare Begegnung kann wirken wie das angeschaltete Licht – sie vertreibt Gespenster.

Fast zwei Wochen hat eine Gruppe junger Leute aus verschiedenen Ländern in einem jordanischen Flüchtlingslager verbracht. Beim gemeinsamen Essen und Spielen, Zuhören und Nachfragen sind sich Flüchtlinge und Besucher nähergekommen – und viele Befürchtungen haben sich verflüchtigt.

Brigitte Pischner ist Sozialarbeiterin in Senioren- und Pflegeheimen in Augsburg. Bürokratie, vielfältige Aufgaben sowie Einsamkeit und körperliche Gebrechen der Bewohner machen ihr zuweilen Sorgen, kosten Überwindung, bringen sie an Grenzen. Immer wieder nimmt sie sich Zeit, lässt sich auf die persönliche Begegnung ein. So bekommt ein wenig bekannter Heimbewohner ein Gesicht, wird zum „Du“, mit dem sie ein tiefes Einvernehmen spürt. Selbst dann, wenn Worte nicht mehr möglich sind.

Begegnung – davon bin ich übezeugt – ist der Schlüssel zu einer menschlicheren Gesellschaft. In der Begegnung mit anderen können wir Ängste überwinden. Im Miteinander wird unser Leben heller. Nur: Der erste Schritt ist oft nicht leicht. Begegnungen brauchen Mut!

Ihr

Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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