18. November 2016

Massenphänomen Angst

Von nst1

Trotz aller Hilfsbereitschaft scheint auch die Angst vor Flüchtlingen und Terrorismus immer mehr Raum in unserer Gesellschaft einzunehmen. Wie entstehen gesellschaftliche Ängste? Was löst sie aus und was kann man dagegen tun? Wir sprachen mit dem Marburger Professor für Sozialpsychologie Ulrich Wagner.

Herr Wagner, sind wir eine besonders ängstliche Gesellschaft?
WAGNER:
Wissenschaftlich kann ich das so nicht beantworten. Aber man hat den Eindruck, dass das Ausmaß der Angst tatsächlich zunimmt, zumindest wenn man die öffentliche Diskussion als Indikator dafür nimmt. Und Umfragen zeigen, dass sich die wahrgenommenen Ursachen von Angst verschieben. Früher war es die Arbeitslosigkeit oder der Ost-West-Konflikt und ein möglicher Krieg, die den Menschen Angst machten. Heute konzentriert sich die Diskussion auf das Themenfeld Terrorismus/Einwanderung.

Woran liegt das?
WAGNER:
Aus psychologischer Sicht neigen Menschen zu Angst, wenn sie eine unangenehme Erfahrung gemacht haben. Typisches Beispiel: Sie gehen abends draußen spazieren und hinter einer Ecke springt ein laut kläffender Hund hervor. Der tut Ihnen nichts, aber Sie erschrecken. Aufgrund eines solchen Ereignisses können Menschen Angst entwickeln.

Im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ängsten erleben wir das Objekt der Angst – den kläffenden Hund – jedoch häufig gar nicht direkt, sondern in der Regel nur über Medien vermittelt. Glücklicherweise haben ja die allerwenigsten die Ereignisse in Köln selbst erlebt, sondern nur als Ergebnis einer politischen oder medialen Diskussion. Diesen Faktor muss man in Rechnung stellen, wenn man über gesellschaftliche Ängste redet.

Dann geht es also um ein medial produziertes Gefühl?
WAGNER:
In sehr hohem Maß. Es gibt natürlich auch den objektiven Hintergrund – den Amokläufer, die Terrorattacke, die Ereignisse in Köln. Aber ob sie uns bedrücken und sogar ängstigen, ist auch davon abhängig, wie die Ereignisse medial aufbereitet werden. Denn die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer terroristischen Attacke zu werden, ist verschwindend gering im Vergleich dazu, Opfer eines Autounfalls zu werden. Trotzdem fürchten wir uns mehr vor der terroristischen Attacke.

Momentan scheint es ein riesiges Sicherheitsbedürfnis zu geben …
WAGNER:
Das ist so nicht ganz korrekt. Gegenwärtig werden solche Ängste von einigen politischen Seiten bewusst geschürt. Befürchtungen werden hochgespielt. Auf der Basis von Gerüchten werden Flüchtlinge mit Kriminalität in Zusammenhang gebracht. So wird ein Klima der Angst angeheizt. Dann bieten sich genau jene politischen Akteure, die dieses Klima verursacht haben, an, Sicherheit zu schaffen.

Das ist eine bewusste Instrumentalisierung, um Stimmen zu fangen! Und auch wenn das ein ziemlich platter Mechanismus ist, funktioniert er. Und das nutzt speziell die politische Rechte, die AfD; aber auch Politiker aus Bayern spielen da ordentlich mit.

Warum durchschauen wir solche Mechanismen oft nicht?
WAGNER:
Wir meinen, wir wären ganz rationale Wesen und würden alle Informationen von außen objektiv aufnehmen, wie ein Großrechner verarbeiten und dann zu einem Urteil kommen. Aber das stimmt nicht! Gerade wenn Emotionen ins Spiel kommen, vor allem Angst und Hass, werden wir irrational. Am Beispiel: Wenn Sie vom Hund angekläfft wurden, haben Sie am Ende nicht nur Angst vor diesem Hund, sondern auch vor anderen und im Extremfall trauen Sie sich nicht mehr auf die Straße. Dieser Angstmechanismus ist in weiten Teilen irrational. Wir glauben aber, wir hätten ihn im Griff und sitzen so der politischen Propaganda auf.

Gibt es Gruppierungen, die da besonders anfällig sind?
WAGNER:
Der Mechanismus gilt generell für alle. Aber diejenigen, die sich politisch interessieren und engagieren, sind weniger anfällig. Das gilt auch für bestimmte Gerüchte – je nach der eigenen Erfahrung. Im Osten Deutschlands etwa hatten die Menschen historisch weniger Möglichkeiten, Erfahrungen mit anderen Kulturen zu sammeln. Deshalb fällt man dort jetzt leichter auf solche Konkurrenzgedanken rein wie: „Die, die kommen, nehmen uns alles weg.“ Man reagiert viel aufgeregter, obwohl relativ wenige Geflüchtete in den Osten zugewiesen wurden. Im Westen konnten die Bürger die Erfahrung machen, dass es unter Menschen mit Migrationshintergrund freundliche und weniger freundliche gibt; dass es keine anonyme Masse ist; sie sehen das mit mehr Ruhe.

Das klingt sehr logisch. Warum läuft es trotzdem aus dem Ruder?
WAGNER:
Weil keiner zuhört! (lacht) Die Wissenschaft hat natürlich eine Reihe von Erklärungen, aber die sind komplex. Zum anderen verbarrikadieren wir uns gern in unseren Vorstellungen. Die Pegida-Leute haben sich abgekapselt und reden nur noch miteinander. Außenstehende finden nicht automatisch ein offenes Ohr, sondern werden sofort verdächtigt, Lügen in die Welt zu setzen. Das ist in den sozialen Medien noch ausgeprägter; da diskutiert man nicht, sondern beschimpft sich bestenfalls und redet ansonsten nur mit denen, die sowieso die gleiche Meinung haben. Das führt dann zu Immunisierung und in der Folge zu problematischen Prozessen wie der möglichen Spaltung der Gesellschaft: Auf der einen Seite die eindrucksvolle Welle der Hilfsbereitschaft und auf der anderen jene, die den Flüchtlingen extrem misstrauisch gegenüberstehen.

Man müsste also die Abgrenzungen überwinden?
WAGNER:
Unbedingt! Ich halte nichts von politischen Äußerungen, nicht mit Extremgruppen zu reden. Man kann nicht davon ausgehen, dass die eigene Botschaft sofort akzeptiert wird und dass Menschen sagen: „Ach, hätte ich das gewusst, dann hätte ich ganz anders gedacht.“ Trotzdem muss man auf Dauer miteinander reden, überzeugende Gegenargumente haben. Und dann auch Zeit lassen, darüber nachzudenken.

Außerdem müssen wir den Menschen Möglichkeiten geben, vernünftig in Kontakt miteinander zu treten, einander kennenzulernen, sich als Individuen zu begegnen und nicht als anonyme Gruppe. Deshalb sind zu große Einrichtungen schlecht. Die Geflüchteten dort können nicht in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung kommen. Das führt zu gegenseitiger Ablehnung und dazu, dass die Menschen verführbar sind durch politische Propaganda.

Sind ängstliche Menschen überhaupt offen für Argumente?
WAGNER:
Sicher. Denn auch wenn wir durch Emotionen und Ängste gesteuert sind, sind wir noch rationale Menschen und haben die Fähigkeit, über uns nachzudenken. Da sind Argumente wichtig und auch, dass wir darüber reden, wie Angst entsteht. Wenn Psychotherapeuten es mit massiven Phobien zu tun haben, ermutigen sie die Patienten, sich behutsam, aber bewusst in die Situation zu begeben, die ihnen Angst macht. So können auch wir uns ganz bewusst solchen Situationen aussetzen, vor allem wenn sie offensichtlich ungefährlich sind. Etwa wenn im Bus noch ein Platz neben einer Person frei ist, die wie ein Flüchtling aussieht. Dann kann ich mich trotz des unangenehmen Gefühls ganz bewusst dahin setzen. Angst belastet ja auch, sie schränkt ein, führt zu Rückzug. Deshalb ist es wichtig, ihr aktiv entgegenzutreten und den eigenen Handlungsspielraum wiederzuerlangen.

Sehen Sie, wo Menschen dazu angeleitet werden?
WAGNER:
Es gibt viele Initiativen, auch im Netz, die auftauchenden Gerüchten bewusst Argumente entgegensetzen. Auch manche Presseorgane versuchen das. Es gibt Bürgerinitiativen im Umfeld von Aufnahmeeinrichtungen, die Menschen zusammenzubringen. Es gibt schon viel – die Frage ist, ob es schon genug ist.

Und man muss das auch bewerten vor dem gesamtpolitischen Hintergrund: Ich würde mir wünschen, dass zumindest diejenigen, die sich zur politischen Mitte rechnen, sich einigen, dass die Not der Geflüchteten nicht instrumentalisiert werden darf, um Angst zu schüren. Da sehe ich Medien, Politik und Institutionen in der Verantwortung. Die Kirchen haben sehr positiv reagiert, indem sie versucht haben, dem eine Botschaft entgegenzusetzen.

Was meinen Sie, wird die Angst weiter steigen oder abnehmen?
WAGNER:
Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass es auch die große Hilfsbereitschaft gab und gibt. Das bedeutet nicht, dass man die Angst ignorieren sollte, denn da entsteht etwas, was die Gesellschaft tatsächlich spalten kann.

Die weitere Entwicklung wird sehr stark von einzelnen Ereignissen abhängen – ob es erneut einen Amoklauf, terroristische Attacken, Übergriffe geben wird. Aber es könnten auch andere angstauslösende Mechanismen auftreten – wie etwa eine Grippeepidemie. Dann könnte das die gegenwärtigen Objekte von Angst ablösen. Das ist schwer vorherzusagen.

Meine große Befürchtung ist, dass mit zunehmender Nähe zu den Bundestagswahlen die Angstdiskussion in Zusammenhang mit Flucht und Terrorismus weiter bewusst angeheizt wird. Und das hinterlässt gesellschaftliche Folgen, die nicht egal sind. Denn wir reden ja über Menschen, die nach Deutschland kommen und die darunter leiden, dass sie zum angstauslösenden Objekt gemacht werden. Das löst auch bei ihnen etwas aus und wir heizen damit auch islamistische Radikalisierung an. Deshalb müsste man die Dinge unbedingt ins rechte Lot setzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gabi Ballweg

Ulrich Wagner,
geb. 1951, ist Professor für Sozialpsychologie am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg. Er arbeitet vor allem im Bereich Prävention von Konflikten zwischen Gruppen, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Gewalt.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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