18. November 2016

Position der Ohnmacht

Von nst1

Offener Brief an António Guterres, künftiger UN-Generalsekretär

Sehr geehrter Herr Guterres,

Sie sind weder Frau noch kommen Sie aus Osteuropa. Diese beiden Voraussetzungen sollte die neue UN-Spitze erfüllen. Aber Russland und die USA hatten die Nominierung der beiden von ihnen jeweils unterstützten bulgarischen Kandidatinnen wechselseitig blockiert. Dann erst einigte sich der UN-Sicherheitsrat, der Generalversammlung Sie als Leiter in spe vorzuschlagen. Die Wahl ist nicht die schlechteste: Als ehemaliger Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen bringen Sie gute Referenzen mit!

Allerdings zeigen die Querelen schon, dass Sie mit herben Enttäuschungen rechnen müssen: als moralischer Rufer in der Wüste, dessen Appelle und Vorschläge bei den entscheidenden Seiten auf taube Ohren stoßen.

Wie oft haben sich Ihre Vorgänger schon die Zähne ausgebissen! Es gibt einiges zu tun: Im Sicherheitsrat sind die Fronten zwischen den fünf Vetomächten verhärtet; so bleibt in Syrien und im Jemen die Lage zum Verzweifeln; der Ruf der Blauhelmtruppen ist durch Missbrauchsfälle in Zentralafrika geschädigt. Aber der globale Völkerclub ist ohnmächtig, ihr oberster Vertreter hilflos! Die Weltpolitik wird woanders gemacht: von interessengeleiteten Allianzen einzelner Staaten. Zwischen den Stühlen sitzen Sie, immer in Gefahr, zerrieben zu werden.

Kein Zweifel, seit der Gründung 1945 hat die UNO vieles geleistet: im Kampf gegen Krankheiten, bei den Rechten für Minderheiten, in der Friedensarbeit, im Flüchtlingsschutz, in der Entwicklungs- und bei humanitärer Hilfe. Aber sie ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit: Während die gegenseitige Abhängigkeit der 193 Nationen immer mehr zunimmt, scheint die Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme und zur Verbesserung der Menschenrechte Rückschritte zu machen.

Mit Krieg und humanitären Katastrophen sind Sie bestens vertraut. Sie werden dafür gelobt, im Flüchtlingshilfswerk UNHCR tiefgreifende Strukturreformen umgesetzt zu haben. Vielleicht haben Sie tatsächlich das Handwerkszeug, um auch bei der UN dringende Reformen zu erwirken?

Zwar wird Ihnen vorgeworfen, beim Zulauf der Flüchtlinge in Europa zu spät reagiert zu haben. Und als portugiesischer Staatschef sollen Sie für einen Boom auf Pump mitverantwortlich sein, der später zu Verschuldung und Wirtschaftskrise führte. Dennoch macht Ihre Ernennung zum UN-Generalsekretär Hoffnung: Sie gelten als sprach- und weltgewandter Diplomat; als Mann der Gerechtigkeit; als Klimaschützer und Unterstützer erneuerbarer Energien. Gern bezeichnet man Sie als einen pragmatischen Utopisten. Dazu passt, dass EU-Außenkommissarin Federica Mogherini Sie als „Mann mit Visionen, Herz und Taten“ charakterisiert. Sie selbst wollen Ihre neue Aufgabe ohne Arroganz ausfüllen, mit Demut, ohne jemandem Lektionen zu erteilen. Dabei verstehen Sie sich als Vermittler, Katalysator, Makler, Brückenbauer.

Das hört sich nach vielen guten Voraussetzungen für Ihr neues Amt an: Bleiben Sie Ihren Vorsätzen treu und lassen Sie sich nicht entmutigen! Arbeiten Sie daran, dass die UN ihren großen Zielen wieder gerecht wird! – Ob Sie damit erfolgreich sind, liegt dann sicher nicht allein an Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an António Manuel de Oliveira Guterres, 67. Der portugiesische Politiker löst am 1. Januar 2017 Ban Ki-moon als Generalsekretär der Vereinten Nationen ab. Guterres war von 1995 bis 2002 Premierminister Portugals, von 1999 bis 2005 Präsident der Sozialistischen Internationale und von 2005 bis 2015 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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