16. Dezember 2016

Ärmel hochkrempeln, statt urteilen

Von nst1

Erfahrungsberichte: Leben nach dem Wort 

Ärmel hochkrempeln, statt urteilen

Da es meinem Vater nicht gut ging und meine Mutter müde wirkte, wollte ich einen Spaziergang mit ihnen machen. Gerade als wir uns fertig machen wollten, klopfte es an der Tür. Ein Bekannter stand davor und war sehr besorgt. Einer seiner Schützlinge aus dem Sozialzentrum fühlte sich nicht gut, lag seit zwei Tagen im Bett und aß kaum noch etwas. Ich vermutete, dass er einfach wieder einmal zu viel getrunken hatte, und so machte ich mir nicht allzu viele Sorgen, dachte sogar, dass es eine gute Lektion für ihn sei, damit er sich in Zukunft ein wenig mit dem Trinken zurückhielt.
Trotz allem war ich unruhig. Nach einer Weile sammelte ich mich einen Moment, versuchte gut in mich hineinzuhören, was dran sein könnte. Sofort kam mir das Wort des Lebens in den Sinn; der Kommentar hatte eingeladen, „sich zu bemühen, Jesus in den Nächsten immer besser zu dienen.“ – Und mir war, als würde mir jemand sagen: „Das ist jetzt dran: die Ärmel hochkrempeln, statt einfach nur Urteile abzugeben. Ich bat meine Eltern, ein wenig zu warten, und erklärte ihnen, dass ich gleich zurück sei. Dann machte ich mich auf den Weg zu dem alten Mann. Ihm ging es wirklich schlecht; auf meine Fragen konnte er kaum antworten und wirkte desorientiert. Sofort rief ich einen Arzt. Mit dem Krankenwagen wurde er ins Krankenhaus gebracht. Da er niemand hatte, fuhr ich mit. Die Diagnose lautete: Schlaganfall. Auf dem Heimweg dankte ich Gott dafür, dass er mich gerade noch rechtzeitig hingeführt hatte. Der Spaziergang mit meinen Eltern war dann ein richtiges Geschenk.
M.S.

Wir haben selbst nichts mehr!

Die wirtschaftliche Situation bei uns in Brasilien ist für viele sehr schwierig. Als ich auf dem Markt war, fiel mir ein, dass meine Eltern kein Geld mehr hatten, also kaufte ich auch für sie ein. Auf dem Rückweg begegnete ich einem weinenden Mädchen auf der Straße: Sie hatte Hunger – so erzählte sie mir – und zu Hause gab es nichts zu essen. Ich ließ mir ihre Adresse geben.
In Absprache mit meinem Mann Antonio brachten wir die Hälfte unserer Lebensmittel dann dieser Familie. Am Tag darauf kam die Tochter unserer Nachbarn und erzählte uns, ihr Vater sei angeblich auf Arbeitssuche gegangen, aber dann nicht mehr zurückgekommen. Auch diese Familie mit vielen Kindern hatte nichts mehr zu essen. Ich wollte eigentlich sagen: „Jetzt reicht es, wir haben selbst nichts mehr“, aber Antonio machte mich darauf aufmerksam, dass wir nur vom Überflüssigen abgegeben hatten, nicht vom Notwendigen. Also haben wir noch einmal mit dieser Familie geteilt. Am Ende des Monats bekam ich ein doppeltes Gehalt ausbezahlt: Ein Bonus, den mir mein Arbeitgeber schon lange zugesagt hatte.
B.P.

Das Eis war gebrochen.

Vor wenigen Wochen kamen in der Grundschule, in der ich als Lehrerin arbeite, noch einmal neue Flüchtlingskinder an. Vorbereitend hatte ich in verschiedenen Klassen darüber gesprochen. Wir hatten mit den Kindern überlegt, wie wir die neuen Mitschüler aufnehmen können. Und die Jungs hatten sich überlegt, dass sie die neu ankommenden Jungen aus dem Irak mitspielen lassen möchten. So hatte ich mit den Kindern sogar geübt, wie sie die Neuen durch Gesten einladen konnten. Ich war sehr zuversichtlich, meinen Teil getan zu haben.
Aber dann in der Pause spielten die Flüchtlingskinder doch alleine an den Spielgeräten. Ich versuchte ihnen verständlich zu machen, dass sie doch mit den anderen Jungen Fußball spielen könnten. Sie schauten auch immer wieder zu den Fußballspielern hinüber, trauten sich aber nicht, dorthin zu gehen.
Zunächst war ich enttäuscht, dass „meine Jungs“ nun doch keine Anstalten machten, die Neuen einzubeziehen. Innerlich schimpfte ich sogar auf sie. Dann hab ich das abgeschüttelt. „Erwarte doch nicht so viel von ihnen. Mach du den ersten Schritt und hilf ihnen“, dachte ich mir. Ich lud die Kinder meiner Klasse ein, auf die Neuen zuzugehen. Die griffen die Idee auch sofort auf, warteten scheinbar nur auf den Anstoß und spielten den noch fremden Jungen den Ball zu. Es klappte! Aras, einer der jungen Iraker, kickte ihn sofort zurück. Das Eis war gebrochen. Gemeinsam liefen die Jungen auf das Fußballfeld und begannen, miteinander zu spielen. Nach einigen Augenblicken winkte mir Aras zaghaft zu. Ich verstand: Das war sein Danke!
M.H.

Warum machst du das?

Bei uns in der Arbeit trinken alle gern Kaffee. Aber keiner denkt daran, die Kaffeemaschine sauberzumachen oder vorzubereiten. So mache ich das oft für alle. Eines Tages kam eine Kollegin und fragte mich, wieso ich immer das ohne Murren tat und so nett wäre. Ich gab ihr ehrlich zur Antwort, dass es für mich eine kleine Geste war, ein Ausdruck meines Wohlwollens allen gegenüber. Sie war erstaunt, und nach einem Moment sagte sie: „Du sagst mir etwas sehr Wichtiges. Ich jammere immer über meinen Mann, weil er alles rumliegen lässt. Stattdessen genügt es, einfach das zu machen, was er nicht macht – als Geste … der Liebe.“
Einige andere Kollegen hatten das mitgehört und ich hab den Eindruck, dass von dem Tag an die Atmosphäre im Büro einen Qualitätssprung gemacht hat. Es gibt viel mehr kleine Zeichen des Miteinanders.
R.C.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2016)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt