24. März 2017

So wie du bist

Von nst5

Den christlichen Glauben leben unter Mitmenschen, die dazu keinen Zugang mehr haben: Wie kann das gehen? Die Ergotherapeutin und Liedermacherin Gery De Stefano bemüht sich um Begegnungen von Mensch zu Mensch.

Gery De Stefano, Mutter von vier erwachsenen Kindern, lebt mit ihrem Mann in Köln. Seit zwanzig Jahren arbeitet sie als Ergotherapeutin in der geriatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Bonn. „Zu uns kommen Menschen, die im Alter akut erkrankt sind: Stürze, frische Schlaganfälle, oft verzweifelte Leute. Sie sind für begrenze Zeit in der Klinik und ziehen dann weiter in eine Reha-Einrichtung.“ Eine ihrer Aufgaben ist es, festzustellen, was die Senioren wieder selbst tun können oder möchten und welche Perspektiven sie haben, um in ihrem Alltag weiterleben zu können.
Manche Patienten beschweren sich über das Essen. Gery De Stefano versucht dann zu verstehen, was sich hinter dem ersten Anschein verbirgt. Sie bleibt nicht beim Ärger stehen, sondern macht Mut: „Gott sei Dank, Ihre Lebensgeister sind wieder da! Wenn Sie wieder Appetit haben, geht es Ihnen doch schon etwas besser!“ Über diese Sichtweise sind die Patienten überrascht: „Ja, da haben Sie eigentlich recht!“

Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern im Krankenhaus besuchen, erlebt sie, dass sie ihrem Unmut Luft machen. Dem Personal geht die Meckerei auf die Nerven. „Aber ich lobe diese Söhne oder Töchter schon mal: ‚Toll, dass Sie so engagiert für Ihre Mutter kämpfen!’ Manche brechen in Tränen aus, weil endlich einmal jemand wahrnimmt, wie sie sich abrackern.“
Die Beziehungen zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat, ist für Gery De Stefano das A und O. Grundlage dafür ist ihr Verhältnis zu Gott. Das kann sie bei den Patienten in den wenigsten Fällen voraussetzen. „Die kennen Gott oft nicht oder haben den Glauben aufgrund dessen, was sie durchgemacht haben, verloren. Und doch sehnen sie sich nach Geborgenheit, nach Sinn im Leben.“

Foto: (c) Erik Drews

Ein Mann zwischen 40 und 50 war in die Abteilung gekommen. Er hatte einen schweren Schlaganfall erlitten, war rechtsseitig gelähmt und stark sprachgestört. Er konnte kaum sehen, die rechte Hand nicht benutzen und lebte allein. Verbittert lehnte er alle Therapien ab. „Notwendig gewesen wären Übungen mit der Hand, damit er sich wieder Insulin spritzen, selbstständig essen und irgendwann nach Hause gehen konnte“, erzählt die Ergotherapeutin. Ihr fiel die Bibelstelle ein, wo Jesus einen Blinden fragt: Was willst du, das ich dir tue? „Das fand ich zunächst zynisch. Ist doch klar, was zu tun war: sein Augenlicht heilen!“ Gery De Stefano kam ins Grübeln. Sollte sie probieren, so vorzugehen wie Jesus? „Dann bin ich zu dem Patienten gegangen und hab gesagt: ‚Ich habe eine halbe Stunde Zeit für Sie. Was möchten Sie, dass ich tue?’ Und er: ,Reden Sie mit mir.’“ Dazu hatte schon lange keiner mehr die Geduld aufgebracht. So unterhielten sie sich; er erzählte von seinen Sorgen, Erwartungen, seiner Einsamkeit. „Sein Gesicht entspannte sich. Nebenbei habe ich mir auch die Hand angeschaut. Er wurde mein eifrigster Patient. So habe ich gelernt, nicht mit der Haltung zu kommen: Ich weiß schon, was für dich gut ist! – sondern: Was ist dir wichtig?“

Ihre direkte Kollegin hatte viele Vorbehalte gegenüber dem Glauben. „Wir haben auf der Arbeit schwierige Momente erlebt“, erinnert sich Gery De Stefano. „Ich habe der Kollegin nicht nur die positiven Erfolge erzählt, sondern auch immer gesagt, wenn ich Kummer hatte, es mir nicht gut ging oder schwerfiel, einen Menschen zu ertragen. Irgendwann sagte sie: ‚Aber du wirkst nie lange niedergeschlagen. Wie machst du das?’“ So konnte Gery erzählen, wie sie versucht, immer wieder neu anzufangen. Dass sie die Kraft dazu aus dem Glauben an Jesus schöpft, der auch tiefste Abgründe durchlebt und trotzdem nicht aufgegeben hat. Die Kollegin war überrascht, einen Menschen zu kennen, der eine lebendige Beziehung zu Gott hat, weil für sie Glaube immer nur aus Formeln bestand.
Ein Sohn von De Stefanos hatte standesamtlich geheiratet, ohne groß zu feiern. Eine kirchliche Zeremonie sagte den beiden nichts. „Aber nach einiger Zeit meinten sie: Eltern, wir möchten unseren Freunden zeigen, dass wir zusammenbleiben und eine Familie sein wollen!“ Bei einem gemeinsamen Urlaub in Italien sollte das Fest stattfinden. Rund sechzig Freunde waren dabei. „Und dann sagten sie, es wäre doch schön, eine passende Zeremonie zu haben.“ Aber wie könnte die aussehen? „Wir haben zusammengetragen, was für jeden von uns Liebe ausmacht, Elemente gesucht, die das ausdrücken: ein Lied, ein Gedicht, einen Text. Die Eltern der Schwiegertochter hatten nicht nach Italien kommen können. Der Vater war erkrankt, die Mutter wollte ihn nicht allein lassen – Ausdruck ihrer Liebe zu ihm.“ Mitten in der Feierstunde rief das Paar die Eltern zu Hause an:
„Wir denken an euch, ihr gebt uns ein tolles Beispiel! – Das war ein ganz tiefer Moment. Dann haben die beiden vor allen frei formuliert, dass sie immer zueinander gehören wollen, auch wenn es mal schwer wird. Die zumeist jungen Gäste waren bewegt. Einer äußerte: Ich hab verstanden, ich muss mit meiner Frau neu anfangen. Eine sagte: So eine Hochzeit kann ich mir auch vorstellen! – Diese Früchte haben gezeigt, dass es nicht die äußeren Rituale und Formen sind, die das Innere bewegen, sondern die Essenz des Glaubens: Liebe, Vertrauen…“
Bis vor Kurzem gab es in Bonn einen kleinen Kreis, der regelmäßig über das Wort des Lebens sprach. Dazu kamen auch Menschen, die nicht viel mit dem Glauben zu tun hatten, wie eine Nachbarin von Gery De Stefano. Eines Tages erzählte sie: „Ich bin nicht verheiratet, meine Kinder sind nicht getauft.“ Gery hakte nach: „Warum habt ihr denn nicht geheiratet?“ Sie hatte es vor, aber ihre Mutter fing damals sofort mit ‚Brautkleid‘ und ‚Hochzeitstorte‘ an, was sie nicht wollte. Und die Kinder taufen lassen? Da wurde erwartet, dass es Kuchen gibt, und backen mochte sie nicht. „Wenn es nur daran liegt, backe ich“, bot Gery an. „Ich wüsste auch keinen Priester“, warf die Nachbarin ein. „Ich kenne einen, mit dem ich gut zurechtkomme.“ – Viele Entscheidungen werden offenbar nicht bewusst gegen Gott gefällt, sondern ergeben sich irgendwie, schlussfolgert Gery. „Manchmal schrecken Nebensächlichkeiten ab, sich dem Glauben oder der Kirche zu nähern, oder Menschen finden keinen Zugang, weil ihnen alles hohl und leer erscheint oder sie sich nicht willkommen fühlen.“

Gery De Stefano bei einem Konzert. – Foto: privat

Gerys Nachbarin hat durch den Kreis neu Interesse an dem Glauben gefunden, den sie nur als Kind kennengelernt hatte. „Später fühlte sie sich eine Zeit lang mehr zum Buddhismus hingezogen. Aber sie hat immer gesagt: ‚Den Austausch über Gedanken und Erfahrungen, die größer sind als nur menschliche Worte, möchte ich nicht missen.’ Im Kreis haben wir uns nie nach einem Taufschein gefragt, ob oder wie der einzelne betet oder welche Normen er erfüllt. Jede und jeder hat etwas zu geben und etwas vom anderen zu lernen. Und die Worte Jesu luden zu tiefen Gesprächen ein, auch zu Widersprüchen, aber immer im gegenseitigen Respekt.“
Als Jugendliche hat Gery De Stefano in der Gemeinschaft mit anderen starke Erfahrungen mit Gott gemacht, die sie geprägt haben. Das hat sie jedoch nicht vor Zeiten innerer Dunkelheit bewahrt. „Bis zum Eindruck, völlig aufs falsche Pferd gesetzt zu haben: Mit meiner Liebe zu den Mitmenschen liebe ich doch letztlich nur mich selbst! Mein Leben lang habe ich mich am Willen Gottes ausgerichtet – und was kommt heraus?“ De Stefanos waren damals in einer schweren Situation. Gerys Überzeugungen waren erschüttert, sie zweifelte an sich und an Gott. Beim Aufräumen im Keller stieß sie auf eine Schachtel mit ausrangierten Schlüsseln. „Das war ein Anstoß: Ich merkte, wie zugenagelt ich war, und hab nach ‚meinen Schlüsseln’ gesucht. Ich habe mich an die früheren Erlebnisse erinnert, habe wieder meine Lieder von damals gesungen, die in bestimmten Situationen entstanden waren.“ Momente der Freude kamen ihr in den Sinn, als sie für andere da gewesen war oder in Schwierigkeiten steckte und sich darin eng mit Jesus in seiner Verlassenheit verbunden fühlte. „Das kann nicht alles Einbildung gewesen sein! – So habe ich wieder Tritt gefasst.“
Ein Lied von Gery heißt „Ich will dich so, so wie du bist“. Geschrieben hat sie es, als sie sich von Freunden enttäuscht, verraten, allein gelassen gefühlt hat. „Da ist mir eingefallen, Jesus, du warst doch immer für die Armen, Elenden, Entrechteten da. Jetzt bin ich eine von diesen, zu denen du gekommen bist!“ Auch was Schrott in ihrem Leben zu sein schien, konnte sie wieder annehmen, dahinter blicken, erkennen: Jesus hat auch dunkle Momente erlebt. „Wenn mein Kind krank ist, ist mein ganzes Herzblut bei ihm. Und wenn Gott seinen Sohn am Kreuz hängen sieht, ist da seine ganze Liebe, seine ganze Aufmerksamkeit. Ich kann anfangen, die Menschen und Situationen so zu sehen, wie Gott sie sieht. Und hab gesagt, okay, wenn du mich willst, wie ich bin, dann will ich dich auch so, wie du bist.“

Foto: (c) Clemens Behr

Menschen ohne religiösen Bezug „bekehren“ sagt Gery De Stefano nichts. Aber wenn sich Gelegenheiten ergeben, hält sie mit ihrem Glauben auch nicht hinter dem Berg. „Die kritische, aber liebevolle Auseinandersetzung mit den Menschen meiner Familie, aus dem Freundeskreis oder an der Arbeitsstelle, die keinen religiösen Glauben haben, hat mich gelehrt, mich deutlicher auszudrücken. Was verstehe ich unter ‚Einheit‘ oder ‚einen Schmerz annehmen‘? Welche konkreten Beispiele kann ich dazu erzählen? Bin ich froh bei dem, was ich tue?“
Ob es um konsequente Ernährung geht, Umweltschutz oder Gerechtigkeit: „Es gibt vieles, wo ich von anderen dazulernen kann. So kamen wir durch unsere Kinder auf die Idee, zu einer Bank zu wechseln, die ethisch saubere Geschäfte macht. Oder: Foodsharing, das Teilen von Lebensmitteln, könnte doch von den ersten Christen kommen, von denen man sagt, dass sie alles gemeinsam hatten!“
Einmal fiel Gery auf, dass einige Mitarbeiter ruppig und lieblos auf manche alten Patienten reagierten, weil sie vielleicht unangenehm waren, bekleckert, dement oder schlecht rochen. Als sie ihnen verriet, ohne Namen zu nennen, dass eine Patientin Prima Ballerina an einem berühmten Theater gewesen war, ein anderer ein Minister, wurden sie stutzig und achtsamer. „Nach und nach begannen sie, den Patienten ein sauberes Hemd anzuziehen, sie zu kämmen. Sie behandelten alle mit Würde; sie wussten ja nicht, wen ich gemeint hatte. Jeder könnte eine Persönlichkeit sein.“

Dazu passen die Könige aus Holz, die Gery in einer Ausstellung entdeckt hat. Der Bonner Künstler Ralf Knoblauch schnitzt sie in allen möglichen Positionen: einfache Figuren, schlicht gekleidet, mit einer goldenen Krone. „Darunter sind aber auch Skulpturen, die keine Krone auf haben“, erzählt Gery. „Erst wenn man um sie herumgeht, entdeckt man, sie ist nur abgelegt. – So mache ich es mit den Menschen, denen ich begegne: einfach suchen, wo ist ihre Krone.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2017)
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