23. Mai 2017

Der rote Faden

Von nst5

Kein Zweifel: Ein Smartphone erleichtert das Leben. Es kann aber auch Beziehungskiller sein. Wann ist es gut, „ online“ zu gehen, wann „ offline“? Ob es im wahren Sinn des Wortes Kommunikations-Mittel ist, liegt an uns.

„Graham Bell hat das Telefon erfunden, damit Menschen, die voneinander getrennt sind, miteinander sprechen können. Steve Jobs hat das Smartphone erfunden, damit Menschen, die beieinander sind, nicht mehr miteinander sprechen müssen.“
An dieser Aussage eines Narren im letzten Fasching ist durchaus was dran. Es scheint, als ob das Smartphone den Begriff „Kommunikationsmittel“ nicht mehr verdient, weil es dem unmittelbaren Kontakt eher im Wege steht. Wer kennt nicht die Bilder von Menschen, die einander im Restaurant oder in der Bahn gegenübersitzen und aufs Handy starren? Wen hat nicht schon das leise und doch aufdringliche Vibrieren in der eigenen oder fremden Tasche abgelenkt oder gar aus der Fassung gebracht? Und gilt nicht derjenige, der einfach so an einer Bushaltestelle steht, fast als Exot?

Tatsächlich gibt es – neben ethischen 1 oder gesundheitlichen 2 Einwänden – vieles, was Skepsis oder Ablehnung gegenüber dem Computer im Handtellerformat rechtfertigt. Der Druck, immer erreichbar zu sein und auf alles sofort zu reagieren, die soziale Entblößung und subtile Ausspähung in bis vor Kurzem nicht gekanntem Ausmaß haben Abhängigkeiten und Verletzungspotenzial neuer Art geschaffen.
Andererseits bringen Smartphones mit ihren Apps eine größere Vielfalt an Möglichkeiten und Chancen auch für Beziehungen. In einer schneller, moderner und komplexer gewordenen Welt sollte man möglichst mit der allgemeinen Entwicklung Schritt halten. Bildlich gesprochen: Im Zeitalter von Schnellstraßen und Schienentrassen reichen Kutsche und Dampflok nicht mehr. Niemand will ernsthaft zurück in die Ära dieser behäbigen Verkehrsmittel. Mit den damit verbundenen Herausforderungen ökologischer und sozialer Art muss freilich verantwortungsvoll und bedacht umgegangen werden.

Wie jeder Fortschritt sind auch Smartphones ambivalent: Ihr Gebrauch hat Vorteile und bringt Herausforderungen und Risiken mit sich. Sie sind deshalb weder ganz schlecht noch ganz gut. Überhaupt: Weniges in unserem Leben ist eindeutig. Wichtiger als die Frage nach Schwarz oder Weiß kann mitunter die Suche nach dem roten Faden sein, nach dem Kriterium, um gut durch die Zweideutigkeiten des Lebens zu kommen. Ein solcher roter Faden für das Verhalten in vielen Bereichen ist das, was man Anstand, Manieren und gutes Benehmen oder klassisch „Etikette“ nennt. Zum Gebrauch von Smartphones gibt es längst eine ganze Reihe von Ratgebern und Richtlinien und ein eigenes Kapitel im Online-Knigge 3.
Der gute und angemessene Gebrauch von Smartphones wie auch aller anderen modernen Kommunikationsmittel lässt sich aber nicht nur im Blick auf das äußere Verhalten – die Etikette – einüben, sondern kann auch von innen her aufleuchten. Hier erweisen sich  die Begriffe der Einheit, der Beziehung und der Liebe als wertvoll und hilfreich – Konzepte, die von Anfang an gleichsam den genetischen Code des Lebens von Chiara Lubich, ihren ersten Gefährtinnen und der aus deren Lebensstil erwachsenen Fokolar-Bewegung bilden.
Tatsächlich bieten die jeweils modernsten Kommunikationsmittel ein hervorragendes Instrumentarium, die Einheit zu fördern und die Beziehung untereinander zu pflegen. Und wir müssen sie geradezu nutzen, um die Gemeinschaft – auch im Glauben – zu stärken. Jesus selbst mahnt immer wieder dazu, sich nicht nur im Geistigen zu verrennen, sondern von den „Kindern dieser Welt“ zu lernen. 4 Ich selbst habe das erste Faxgerät in meinem Leben vor gut dreißig Jahren in einer Fokolargemeinschaft gesehen, wo es bestaunt und ihm der Name „Gabriel“ gegeben wurde – des Engels, der Botschaften Gottes überbringt.
So betrachtet, wird eine gut durchdachte Nutzung einer völligen Ablehnung (es sei denn aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen, wie bereits angedeutet) vorzuziehen sein.  Wer immer also ein Handy in die Hand nehmen möchte, kann danach fragen, ob das in diesem Augenblick eher die Einheit und die Beziehung fördert oder gerade eine Mauer aufbaut oder gar ein Zerwürfnis provoziert. Eine stereotype Lösung für alle Situationen kann es kaum geben; es mag mitunter durchaus wichtig und richtig sein, sich in einem Gespräch unter Anwesenden durch einen wichtigen Anruf oder eine dringende Nachricht stören zu lassen.
Wenn, so betrachtet, Einheit gegen Einheit steht, sollten wir abwägen, welcher Beziehung im gegenwärtigen Augenblick der Vortritt zu lassen ist: der realen Begegnung oder der angefragten Störung. Bei dieser Entscheidung kann die Frage nach der größeren Liebe Orientierung und Sicherheit geben. Die Liebe öffnet die Augen für die kleinen Worte und Gesten, die eine kritische Situation auf einmal auflösen können. Aus Liebe zum gerade anwesenden Nächsten sowie übrigens auch in Treue zu der Arbeit, die gerade ansteht, können wir wagen, das Handy auszuschalten oder wegzulegen. Und wenn es dann doch einmal unausweichlich erscheint, aus einer Begegnung heraus zum Smartphone zu greifen, können wir dies in die Kommunikation mit dem anwesenden Gegenüber einbeziehen: durch die einfache Bitte um Erlaubnis oder aber die vorherige Ankündigung, dass möglicherweise mit einer Störung durch einen Anruf zu rechnen ist, verbunden mit der Bitte um Verständnis. Auch dies kann zutiefst Ausdruck von Liebe sein. In den seltensten Fällen wird man hier auf Ablehnung stoßen, sondern im Gegenteil die Liebe und Wertschätzung wahrnehmen, die dahinterstehen. Der Wunsch nach der größeren Liebe – auch das war Chiara Lubich und ihren Gefährtinnen von Anfang an klar – lässt einen selbst immer mehr hinein reifen in eine authentische und lebendige Beziehung mit Gott und den Menschen, ob man nun gerade online ist oder nicht.
Udo Stenz

1 Handys und andere elektronische Geräte benötigen Rohstoffe – „Seltene Erden“ – die häufig unter ausbeuterischen Bedingungen von Menschen in den ärmsten Ländern abgebaut werden.
2 Vgl. Neue Stadt 2/2017, S. 13
3 www.knigge.de
4 Vgl. Lukas 16,8

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2017)
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