23. Mai 2017

Der Schmerz – eine unendliche Geschichte

Von nst5

Wer sich dem scheinbar so vertrauten Phänomen Schmerz widmet, merkt schnell, wie vielschichtig und tiefgründig es ist. Existenziell eben.

Sie quälen, martern, klopfen, pochen oder stechen. Manchmal bohren sie, drücken, kribbeln, ziehen oder brennen. Viele Verben eigenen sich, um Schmerzen zu beschreiben. Nicht nur weil Schmerzen unterschiedlich sind, sondern auch weil jeder Mensch sie anders – subjektiv – empfindet. Andererseits kennt wohl kaum ein Mensch ein schmerzfreies Leben – es sei denn, er gehört zu dem verschwindend geringen Anteil derjeniger, die wegen eines genetischen Defekts gar kein Schmerzempfinden haben.

Schmerzen sind also nicht nur ein subjektives, sondern auch ein universelles Erlebnis – von der Geburt bis zum Tod begleiten sie uns. Mal sind sie stärker, mal schwächer. Oft vergehen sie schnell wieder. Glücklicherweise. Aber immer mehr Menschen – zumindest in westlichen Ländern – sind jahrelang davon geplagt. Und das obwohl die körperliche Belastung abnimmt. Nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft lebt in jedem dritten Haushalt in Europa ein Mensch, der unter Schmerzen leidet. In Deutschland spricht man von 12 bis 15 Millionen; in Österreich ist jeder Fünfte betroffen, und auch in der Schweiz liegen die Zahlen kaum darunter. Durchschnittlich dauert die Leidensgeschichte chronisch Schmerzkranker sieben, bei mehr als 20 Prozent über 20 Jahre.
Schmerzen sind nicht nur häufig, sondern auch teuer. Chronische Schmerzen verursachen in Deutschland jährliche Kosten in Höhe von geschätzt 38 Milliarden Euro. Die Allianz Chronischer Schmerz Österreich spricht von 1,4 und 1,8 Milliarden Euro. Nur ein Bruchteil entfällt auf Behandlungskosten; den Löwenanteil verursachen Krankengeld, Arbeitsausfall und Frühberentung. Schmerz ist damit ein Volksleiden. Indiz dafür ist wohl auch die Tatsache, dass zu Hauptwerbezeiten schmerzlindernde Medikamente in höchsten Tönen angepriesen werden. Und wer möchte seinen Alltag nicht gern schmerzfrei gestalten?
Andererseits kennt man die Mutproben aus Kinder- und Jugendtagen oder weiß von Riten in unterschiedlichen Kulturen: Ertragene Schmerzerfahrungen sind dabei Beweis dafür, dass man „ein echter Kerl“ ist, sich was traut und ganz dazugehört. Und geht nicht so mancher im Sport bewusst an seine Schmerzgrenze, hält beim Zahnarzt lieber vorübergehend den Schmerz aus, statt dann den ganzen Tag eine betäubte Lippe zu haben? Und was ist mit Ritzen, Piercing oder Tätowierung, gegen sich selbst gerichteten Körperverletzungen aus psychologischen oder kultischen, eventuell sogar ästhetischen Gründen? Solange man noch das Gefühl hat, dass der Schmerz das Denken, Fühlen und Handeln nicht völlig vereinnahmt, sondern kontrolliert wird, kann er offensichtlich sogar fast ein reizvoller Gegner sein, an dem Grenzen ausgetestet werden.
Jeder Schmerz wird ausgedrückt. Mimisch. Sprachlich. Gestisch. Mit Tränen. Oder mit allem gleichzeitig. Das ruft andere auf den Plan: Mitfühlende, Helfer, Retter und Tröster. Sie sind oft das beste Schmerzmittel. Das weiß jede Mutter, die ihrem Kind ein Trostlied singt. Dieses beruhigende Ritual stärkt das Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit. Und sicher wäre es spannend, mehr über den Umgang mit Schmerz in unterschiedlichen Kulturen zu wissen.
Das Phänomen „Schmerz“ ist vielschichtig und fordert nicht nur die Medizin heraus. Molekularbiologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Anthropologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften sind damit beschäftigt. Und wie viele Kunstwerke, Gedichte und Lieder gäbe es nicht, wenn die Künstler so manche Leid- und Schmerzerfahrung schnell hätten wegzaubern können? Das rechtfertigt keinesfalls, den Schmerz zu verklären. Aber es verweist auf eine weitere Dimension: Schmerz ist dabei eine Art Grenzfläche, an der Psyche und Körper aufeinandertreffen. Die Neurophysiologie, die moderne Hirnforschung, zeigt, dass etwa bei Angst vor sozialer Zurückweisung weitgehend dieselben Bereiche im Gehirn aktiviert werden wie bei körperlichen Schmerzen. Soziale Zurückweisung, Isolation oder Ausgrenzung verstärken körperliche Schmerzempfindungen, während die Zugehörigkeit zu einer Gruppe schmerzlindernd wirken kann.
Weil Schmerz den ganzen Menschen betrifft und eine existenzielle Frage ist, verwundert es nicht, dass er auch in allen Religionen eine Rolle spielt. Umso erstaunlicher ist es, dass allein das Christentum einen Gott kennt, der sich dem Schmerz nicht entzogen hat. Im Gegenteil: Er lässt zu, dass sein Sohn, Gott selbst, Schmerz und Leid am eigenen Leib erfährt. Mehr noch: Er wählt genau diesen Weg, um den Menschen seine Liebe zu zeigen, sie zu erlösen. Das ist ein unfassbares Geheimnis und hat über die Jahrhunderte hinweg immer wieder neu Rätsel aufgegeben. Oft wird das Christentum deshalb auch als eine Religion des Schmerzes und des Leids bezeichnet. Und leider bestätigen manche geschichtlichen Entwicklungen diese Sicht. So hat es sicher Fehldeutungen gegeben, wenn Schmerz und Leid nicht mit allen Mitteln bekämpft oder gar als Bestrafung für sündhaftes Verhalten gedeutet wurden. Andererseits gab es auch immer wieder Tendenzen zu einer einseitigen Verherrlichung des Schmerzes. Sicher ist es auch eine Versuchung, den Schmerz zu verharmlosen oder zu beschönigen.

Aber hätte Gott nicht andere Möglichkeiten gehabt? Warum hat er trotzdem genau diesen Weg gewählt? Steckt darin nicht auch eine Zusage: dass er die Menschen nicht allein lässt in den schmerzhaften Momenten ihres Daseins? Jesus hat sie durchlebt und durchlitten. Nichts von dem, was Menschen erleben, ist ihm fremd. Schafft er nicht genau so auch die Möglichkeit zu einer Begegnung mit ihm?
Das ist der Glutkern des christlichen Glaubens – diese schmerzhafte Erfahrung, diese Erschütterung, die untrennbar gekoppelt ist an die Verheißung der Auferstehung – und die Himmel und Erde seit mehr als zweitausend Jahren verbindet. Und das gibt auch dem existenziellen Ereignis Schmerz einen Lichtblick.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2017)
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