30. November 2017

„Aus einer inneren Mitte“

Von nst5

Von Reizen und Möglichkeiten überflutet, fällt das Entscheiden manchmal schwer. Warum ist das so und was kann man tun? – Der Arzt und Coach Matthias Lauterbach plädiert für eine bewusste Wahl: zu mehr „ Achtsamkeit “, um wieder im Einklang mit sich selbst zu leben – und damit zur Gesundheitsvorsorge.

Herr Lauterbach, war es eine Kopf- oder eine Bauchentscheidung, für dieses Interview zuzusagen?
Das kann ich nicht so genau auseinanderhalten. Aber ich glaube, es gibt keine reinen Kopf- und keine reinen Bauchentscheidung.

Sollte man dann der einen oder anderen Seite mehr Beachtung schenken?
Ich persönlich würde mich immer mehr auf meine Bauchentscheidung verlassen. Denn auch wenn Entscheidungen so aussehen, als seien sie rational gut durchdacht, haben sie sehr viele Anteile, die aus unbewussten Quellen stammen; aus biografischen, aus früheren Mustern, nach denen man entschieden hat, aus vielen Automatismen; sonst könnten wir auch nicht überleben.
Und wir treffen ja auch permanent und manchmal ganz unbewusst Entscheidungen, die Auswirkungen haben. Wenn Sie noch einen Kaffee trinken und das Haus zwei Minuten später als geplant verlassen, entgehen sie einem Verkehrsunfall. Welche Auswirkungen all diese Mikroentscheidungen haben, wissen wir nicht. Trotzdem prägen sie unser Leben wahrscheinlich mehr, als wir ahnen.

Fallen uns Entscheidungen dann manchmal so schwer, weil wir zu viel denken?
Wir leben in einer sehr rational geprägten Zeit und interessanterweise hat den Nobelpreis jetzt gerade jemand bekommen, der sich mit der psychologischen Seite von Wirtschaftsentscheidungen beschäftigt hat. Schon in den 1990er-Jahren gab es viele Publikationen zum Thema „emotionale Intelligenz“, und es ist vielen aufgefallen, dass wir uns mit der rationalen Dominanz nicht immer nur einen Gefallen tun. Ganz ohne Frage müssen wir Dinge gut überlegen und finanzielle Entscheidungen auch gut durchrechnen; das nur nach dem Bauchgefühl zu machen, wäre dumm. Wir brauchen beides! Aber vielleicht haben wir zu lange die eine Richtung betont – Kopf, Vernunft – und müssen nun wieder stärker den anderen Teil – das Bauchgefühl – einbeziehen. Dabei dürfen wir aber auch das Herz nicht außer Acht lassen.

Fallen Entscheidungen heute nicht auch deshalb schwerer, weil man sehr viel mehr Möglichkeiten hat?
Na ja. Wenn ich in den Supermarkt gehe, wünsche ich mir auch, dass da nur drei Marmeladen stehen und nicht hundert. Und wenn Sie dann noch in den Internetportalen schauen, haben Sie eine solche Fülle an Möglichkeiten, dass viele sich davon überfordert fühlen.
Aber der eigentliche Grund, dass Entscheidungen schwerer geworden sind, liegt vor allem darin, dass wir häufig in Entscheidungsprozessen nicht bei uns selbst sind. Wir lassen uns zu sehr ablenken, von materiellen Verlockungen und von dem, was man glaubt haben zu müssen. Oft sind das Ersatzbefriedigungen oder Dinge, die nicht so notwendig sind, aber das Leben bunter machen, oder, oder, oder. Wir überschwemmen uns dabei allerdings mit Reizen, weil wir unser Leben als Event gestalten. Die sind aber nicht das eigentliche Thema, sondern die Frage: Wie bin ich ganz bei mir und bei dem, was ich in dieser Welt will?
Im weitesten Sinn kann man das als Sinnhaftigkeit beschreiben. Gemeint ist, aus einem inneren Empfinden, einem inneren Ruhepol oder Gleichgewicht heraus zu handeln. Dann ist es natürlich schon noch ein Unterschied, ob es um eine Marmelade, ein Haus oder eine Partnerschaft geht.

Und wie kann man zu dieser Sinnhaftigkeit finden?
Das ist erst mal eine Entscheidung!

Schon wieder eine!
Ja (lacht). Die, dass ich wieder bei mir ankommen will, mich überhaupt um mich kümmern will. Man sagt ja so schön: Stell dir vor, du horchst in dich rein und keiner ist da. – Dieses Gefühl von Leere muss man dann erst einmal aushalten, ertragen, wenn man sich lange nicht mit sich beschäftigt hat oder mit dem, was einen im Leben um- und antreibt. Und im Grunde ist das eine Lebensaufgabe.
In den letzten Jahren hat man die sogenannte „Achtsamkeit“ als eine Schlüsselkompetenz erkannt. Sie ermöglicht es, in sich hineinzuspüren, Gleichgewichte herzustellen, sich immer wieder neu zu verorten und sich mit den Menschen und der Umwelt zu verbinden, im gegenwärtigen Augenblick des Lebens, und so die Handlungsmöglichkeiten in der Fülle des Lebens wahrzunehmen. Das geht über Übungen, auch über Meditation.

Das ist aber ein längerer Weg, der Zeit braucht.
Aber wenn man Entscheidungen treffen will, die eine größere Tragweite haben, ist es das wert. Und wie schon gesagt, es ist eine Lebensaufgabe, eigentlich ein Lebensstil.

Kann man in Bezug auf Entscheidungen bestimmte Typen oder Grundmuster beobachten?
Entscheidungen, die Lebensveränderungen betreffen, das Zusammenleben in Partnerschaften, einen Wohnortwechsel oder das Verlassen eines beruflichen Umfeldes, sind meist erst einmal mit einer größeren Unsicherheit verbunden. Die einen meiden diese Entscheidungen. Denn Unsicherheit löst bei ihnen Befürchtungen und Ängste aus.
Andere lieben genau solche Veränderungsprozesse: Ihnen ist es schon langweilig, wenn sie zwei Jahre an einem Platz sind. Sie haben ein anderes Lebensmuster und ihnen fällt eine solche Entscheidung leichter. An einem Platz zu bleiben oder sich dauerhaft in einer Beziehung zu verorten, solche Entscheidungen fallen ihnen schwer.
Wie wir uns verhalten, hängt sehr davon ab, wie unsere Grundlebenseinstellungen sind, welche Persönlichkeiten wir im Laufe unserer Geschichte geworden sind und welche Erfahrungen wir bisher mit Entscheidungssituationen gemacht haben.

Eine Entscheidung für etwas ist auch eine Entscheidung gegen etwas anderes …
Das ist eine Charakteristik von Entscheidungen: dass man sich damit auch gegen hunderttausend andere Dinge entscheidet. Und das macht auch wieder jenen das Leben schwer, die nicht gut bei sich selbst sind. Deshalb sehen sie die hunderttausend Möglichkeiten, die ihnen entgehen.
Manchmal sind es aber auch Gewohnheiten, die es uns verleiden, gute Entscheidungen zu treffen. Angenommen, man hat sich eine Jacke gekauft, die man schön fand. Aber man hat auch viele andere gesehen. Man freut sich über diese Jacke, geht aber nochmals ins Kaufhaus und schaut sich die anderen an. Wenn dann noch eine der Jacken über Nacht heruntergesetzt wurde, ärgert man sich über eine Jacke, über die man sich auch hätte freuen können.
Oder nehmen Sie an, es ist eine Situation, in der man sich zwischen zwei Dingen entscheiden muss. Da sieht man oft nicht, dass es – rein logisch – noch mindestens zwei weitere Möglichkeiten gibt: Ich nehme keine der beiden Jacken, sondern kaufe eine Hose. Oder – eine weitere Möglichkeit – ich kaufe beide. Oft sieht man die weiteren Optionen gar nicht, lässt sich zu sehr bedrängen oder schafft nicht, den Blick zu weiten. Und natürlich gerät man manchmal in ein Entscheidungsdilemma: links oder rechts? Genau das kann auch die Chance sein, noch mal zu hinterfragen, ob ich wirklich in diese Gegend will oder ob ich nicht vielleicht etwas ganz anderes machen kann oder will.
Deshalb ist es meines Erachtens das Wichtigste, dass Menschen in ihren Entscheidungsprozessen flexibel bleiben. Unangenehm wird es immer dann, wenn eine Entscheidung eng wird. Dann verschließt man sich häufig auch den emotionalen Prozessen, die im Bauch und im Herzen stattfinden.

Trotzdem gibt es diese Situationen. Was kann man dann tun?
Natürlich. Wenn mir jemand eine Pistole vorhält, ist das ein Entscheidungsdruck, eine Enge.
Und es gibt auch Situationen mit Vorgaben von außen, die man nicht ändern kann. Oft ist das im Arbeitsleben so. Dann ist die wichtigste Frage: Was kann ich noch mit mir vereinbaren und wo ist eine Grenze? Und es kann auch sein, dass ich erst einmal über diese Grenze gehen muss, weil die Alternative letztlich – etwa aus finanziellen Gründen – keine ist.
Aber wenn das bewusst geschieht, ist es schon sehr viel wert. Denn dann kann man sich auch fragen: Stimmt das noch und wie lange geht das noch? Und wie schaff ich mir Alternativen, um aus dieser Enge herauszukommen?
Solche Situationen brauchen Einfallsreichtum, Kreativität und gute Freunde! Mit dem Blick von außen können sie auf die Situation schauen, die so verfahren erscheint und Fragen stellen, die helfen, die Enge zu weiten und die Gedanken in eine andere Richtung zu bringen.

Ein weites und doch manchmal enges Feld mit diesen Entscheidungen …
Ja, und es ist gut, dass man es sich immer wieder öffnet. Entscheidungen aus sich, aus seiner Mitte zu treffen, ist eine Entscheidung für eine bestimmte Art von Lebensstil, bei dem man für sich und seine Selbstsorge auch entsprechende Zeit investiert. Und das bedeutet Glück, Zufriedenheit und letztlich auch Gesundheitsvorsorge.

Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Matthias Lauterbach,
Jahrgang 1949, machte nach dem Medizinstudium eine psychiatrische und psychotherapeutische Weiterbildung. Als   Facharzt für Psychiatrie und für psychotherapeutische Medizin war er viele Jahre Chefarzt. Danach folgten Ausbildungen in Psychodrama und systemischer Therapie und Beratung.
Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Gesundheitscoaching, in der Supervision und der systemischen Beratung; er lehrt an der Leibniz Universität Hannover.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2017)
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