24. Januar 2018

Armut bekämpfen, nicht die Armen.

Von nst5

Kinder und Jugendliche sind überdurchschnittlich stark armutsgefährdet: 15 bis 20 Prozent der Unter-18-Jährigen in Deutschland; in Österreich rund 18, in der Schweiz über 9 Prozent. Wie kommt es dazu?  Was bedeutet arm sein für die Kinder? Wo ansetzen, um die Armut zu senken? Wir fragen Michael Klundt von der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Herr Klundt, in unserer Überflussgesellschaft muss niemand Hunger leiden. Was also heißt Armut bei uns?
Armut in den reichsten Staaten der Erde ist natürlich etwas anderes als in armen Ländern. Das ist eine Binsenweisheit, aber man muss es vorausschicken. Wir sprechen weniger über absolutes Elend und Verhungern, sondern mehr über Entbehrungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensstandard. Wenn alle Kinder einen Schulranzen, Spielzeug, Malstifte oder einen Fernseher besitzen, dann bedeutet es für Jungen und Mädchen, die das nicht haben, dass sie an Ausgrenzungen leiden.

Worin äußert sich Armut bei Kindern noch?
Sie haben meist keinen ruhigen Platz für die Hausaufgaben: kein eigenes Zimmer, keinen Schreibtisch. Sie können Freunde nicht zum Kindergeburtstag nach Hause einladen und die Einladungen anderer nicht annehmen, weil sie kein Geld für ein Geschenk haben.
Die sozialen Netzwerke sind bei ökonomisch benachteiligten Familien wesentlich kleiner als bei Mittel- und Oberschichtfamilien. Das bedeutet weniger Möglichkeiten, Freizeitangebote wie Musikschulen und Sportvereine wahrzunehmen. Die soziale Wertschätzung ist geringer, damit verbunden auch das Selbstwertgefühl. Der Mangel verschlechtert oft das Familienklima. Die Kinder haben ungünstigere Voraussetzungen in der Schule. Sie werden aufgrund ihrer sozialen Herkunft bei gleicher Leistung schlechter bewertet, haben also weniger Chancen, höhere weiterführende Schulen zu besuchen.

Heißt das: Auch die Haltung gegenüber Armen spielt eine Rolle dabei, wie verbreitet Armut ist?
Es macht einen großen Unterschied, ob ich in Pädagogik, Kita, Schule oder Sozialarbeit von „Problemkindern“ und „Multiproblemfamilien“ spreche oder von „Kindern und Eltern mit Problemen“. Mit Letzterem mache ich deutlich, dass die problematischen Bedingungen gemeinsam angegangen werden können.

Und dass die Kinder und Familien nicht selbst an ihrer Lage schuld sind.
Genau. Wir müssen wegkommen von der Bekämpfung der Armen hin zur Bekämpfung der Armut. Da muss man sich fragen: Gehen wir sensibel genug mit sozialer Ungleichheit und deren Auswirkungen um? Fördern wir den solidarischen Umgang miteinander? Davon hängt ab, wie sich Kinderarmut ausbreitet oder ob sie vermieden und bekämpft werden kann.

Welche Rahmenbedingungen oder Ursachen führen zu Armut?
Vorweg: In der Debatte müsste man Anlässe und Ursachen unterscheiden. „Armutsanlässe“ wie alleinerziehend sein, einen Migrationshintergrund oder arbeitslose Eltern haben werden oft fälschlicherweise als Armutsursache betrachtet. Aber in einem funktionierenden System mit einer guten Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik brauchen auch Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder eingewanderten Eltern nicht in Armut zu leben. Die Politik muss allerdings dafür sorgen, dass sie bei Bedarf Hilfen bekommen, unabhängig davon, in welchen familiären Konstellationen sie groß werden.
Aber das Problem ist, dass es Armut ja gar nicht gibt: Sie wird nicht wahrgenommen! Wenn im Koalitionsvertrag der SPD mit der CDU/CSU von 2013 keine Kinderarmut existiert, muss sich die Bundesregierung auch keine Programme dagegen überlegen. Weil Kinderarmut ignoriert wird, hält sie sich so beständig!
Die letzten Regierungen in Deutschland haben sozialpolitische Maßnahmen gern als Meilensteine gegen Kinderarmut gefeiert. Schaut man ihre Wirkung genauer an, ist das ernüchternd. Denn 10 Euro mehr Kindergeld bedeuten zugleich 10 Euro weniger Hartz IV. Da wird also nur Geld von der rechten Tasche in die linke verteilt! Ähnlich beim Elterngeld. Das Bildungs- und Teilhabepaket und auch der Kinderzuschlag sind weitgehend wirkungslose und bevormundende Bürokratieformen: Hunderte von Millionen Euro sind geflossen, aber zum Teil in Bürokratie, Straßenbau, Schuldenabbau und andere Maßnahmen gelandet – am wenigsten jedoch bei den Kindern.
Die Bundeskanzlerin und viele Medien meinen: Uns geht es doch super, die Wirtschaft brummt! Aber dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge sind bei den unteren vierzig Prozent der Bevölkerung die realen Einkommen im Verhältnis zu 1999 gesunken. Die unteren siebzig Prozent zahlen heute mehr an direkten und indirekten Steuern als vor zwanzig Jahren. Nur die oberen dreißig Prozent zahlen weniger.

Fehlt der Wille, etwas zu verbessern?
Natürlich sind nicht alle Politiker ignorant. Aber viele Aufsteiger in den gesellschaftlichen Führungsebenen gehören zu einer Generation, die von einem funktionierenden Sozialstaat in den späten 1960er- und 1970er-Jahren profitiert hat, mit mehr Bildungs- und sozialer Gerechtigkeit. Sie tun so, als hätten sie sich alles selbst erarbeitet und als könnten das die Armen heute auch. Heute aber wachsen viele Menschen mit den Risiken Arbeitslosigkeit, Niedriglohn, Altersarmut auf. Das kennen die Kinder der Vollbeschäftigungsgesellschaft ebenso wenig wie verschiedene neue Formen sozialen Ausschlusses, zum Beispiel durch Privatisierungen im Bildungssystem. Wenn aber das obere Drittel der Bevölkerung von Steuersenkungen profitiert, zusätzliche Einnahmen hat und diese zum Teil nicht mal versteuert, hat es auch ein Interesse daran, dass das so bleibt.

Was empfehlen Sie der Politik?
Drei zentrale Ansatzpunkte sind das Existenzminimum, die Familienleistungen und der gesamte Bereich Beratung, Infrastruktur, Familien- und Jugendhilfe.
Das oberste Zehntel bei den Haushaltseinkommen erhält dreizehn Prozent aller Familienleistungen und das unterste Zehntel nur sieben. Dabei müsste es umgekehrt sein. Also wären  da entsprechende Umstellungen vorzunehmen.
Was das Existenzminimum betrifft, bräuchte es Neuberechnungen, die tatsächlich am realen Bedarf der Kinder orientiert sind.
Und: Viele Familien nehmen verschiedene Leistungen überhaupt nicht in Anspruch, weil sie nicht wissen, dass es sie gibt, oder weil sie sich ihrer Bedürftigkeit schämen. Daher müssten die Leistungen sie so einfach und niedrigschwellig wie möglich erreichen. Dazu könnte man die Anlaufstellen bündeln. So würde man Bürokratie, Demütigung, Unkenntnis vermeiden. Die Familien könnten sich an eine einzige Stelle wenden, die dann dafür sorgt, dass sie alle nötigen Informationen erhalten, anstatt von Pontius nach Pilatus ziehen zu müssen, um alle Möglichkeiten der Unterstützung kleckerweise in Erfahrung zu bringen.

Viele Einrichtungen, Vereine, Kirchen bemühen sich, der Armut zu begegnen. Wie wirksam sind sie?
Ich denke an runde Tische gegen Armut, Wohlfahrtsverbände, verschiedenste Initiativen bis hin zu den Tafeln. Die Ursache, weshalb es die Tafeln gibt, finde ich problematisch, aber dass Menschen sich für andere einsetzen, um deren Not zu lindern, halte ich für äußerst richtig! Man kann nicht erst auf die Politik warten.

Wo sehen Sie gute Ansätze?
Wirksam gegen Kinderarmut sind sogenannte „Armuts-Checks“. Alle Maßnahmen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, alle Gesetze werden überprüft anhand der Frage: Welche Wirkung haben sie auf die Kinderarmut? Kein Patentrezept, aber ein Ansatz.
Das „Dormagener Modell“ will die Familien in die verschiedenen Maßnahmen der sozialen Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe hineinnehmen. So, dass nicht erst eingegriffen wird, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Von der Schwangerschaft bis zum Berufseinstieg werden Kinder und ihre Familien gefördert und begleitet – nicht nur diejenigen in Armut – was zu einem viel besseren Verhältnis beispielsweise der Jugendhilfe zu den Familien führt. Es gibt sehr fortschrittliche Institutionen, Familienzentren, Kinderschutzzentren, die das umsetzen. Auch Kitas, Schulen, Zentren, die die Kinderrechtskonvention umsetzen, sind vorbildlich. Nicht nur im Blick auf Kinderarmut, sondern auch auf Kinderschutz, Bildung, Teilhabe, Vorbeugung von Gewalt und Mobbing.

Welche Folgen hat Armut für die Zukunft eines Kindes?
Wenn wir von Armutsrisiken sprechen, heißt das nicht, dass sie in jedem Fall auch eintreffen. Obwohl Kinder mit vielfältigen starken Benachteiligungen unter unglaublich schwierigen Bedingungen aufwachsen, kann doch ein großer Teil von ihnen das Leben gut bewältigen. Viele haben allerdings tatsächlich schlechtere Bildungs- und Berufschancen. Denn Akademikerkinder stellen eher ihresgleichen ein. So gelangen Kinder von Nicht-Akademikern viel schwerer in die oberen Ebenen der Gesellschaft, selbst dann, wenn sie einen Doktorabschluss haben.
Eine lang andauernde Armut kann auch eine niedrigere Lebenserwartung bedeuten: um bis zu zehn, zwölf Jahre!

Sind Kinder ein Armutsrisiko?
So pauschal nicht. Natürlich ist ein Kind oft mit Einkommensausfällen und Mehrkosten verbunden. Aber viele Eltern können das problemlos stemmen. Eltern mit höherem Einkommen bekommen im höchsten Fall 1 800 Euro Elterngeld im Monat, jemand, der ein niedrigeres Einkommen hat, 300. Diese Ungerechtigkeit muss man angehen. Kinder sind dann ein Armutsrisiko, wenn die Eltern ohnehin nahe an der Armut dran sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Michael Klundt
geboren 1973, hat in Marburg Germanistik und Politikwissenschaft studiert und 2007 an der Universität Köln promiviert. Seit 2010 ist er Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal. In Stendal wird als einzigem Ort im deutschsprachigen Raum der interdisziplinäre Bachelor-Studiengang „ Angewandte Kindheitswissenschaften “ angeboten. Inzwischen gibt es dort auch einen Masterstudiengang „ Kindheitswissenschaften und Kinderrechte“, dessen Studiengangsbeauftragter Klundt ist. Armut und Reichtum, Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialpolitik sowie Geschichtspolitik sind seine Forschungsschwerpunkte.
www.hs-magdeburg.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2018)
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