WORT DES LEBENS.PLUS
Ein gewalttätiger Gott?
Das „Wort des Lebens“ vom Januar ist keine einfache Bibelstelle: Sie legt das Bild eines Gottes nahe, der auch Gewalt anwendet. Schon im zweiten Jahrhundert wollte die Glaubensgemeinschaft des „Marcionismus“ Texte des Alten Testaments aus der Bibel streichen mit der Begründung, dort würde im Gegensatz zum Neuen Testament ein böser und gewalttätiger Gott verherrlicht. Doch wurde diese Idee vehement abgelehnt. Auch die Texte des Alten Testaments waren und sind für die Kirche heilige Texte. Deutlich wird das zum Beispiel in der katholischen Gottesdienstpraxis. So darf in der Osternacht, dem wichtigsten Gottesdienst im Jahr, nur eine der bis zu sieben möglichen alttestamentlichen Lesungen auf keinen Fall fehlen: Die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, bei der die Streitmacht des Pharaos durch Gott vernichtet wird (Exodus 14,15 – 15,1). Und genau an diese Stelle schließt auch das „Wort des Lebens“ an.
Selbst biblische Texte wie diesen müssen wir mit dem Bild eines liebenden und barmherzigen Gottes zusammenbringen, was nicht immer leicht ist. Doch klagen nicht auch wir wie der alttestamentliche Hiob manchmal Gott an: „Ich schreie zu dir, und du antwortest mir nicht“? (Hiob 30,20) Oder fragen nicht auch wir zuweilen wütend wie der Beter aus Psalm 13: „Wie lange noch, Gott, vergisst du mich ganz?“ 1 Oder beten wir nicht auch wie in Psalm 22: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wenn wir uns also fragen, warum es im Leben denn immer wieder so schwer sein muss, rufen wir gelegentlich auch unbewusst nach einem konkreten, wirkmächtigen Gott, der mit starker Hand eingreift, nach einem Gott, der gegen alle Ungerechtigkeit kämpft. „Deine Rechte, HERR, ist herrlich an Stärke“ wurde von Menschen aufgeschrieben, die nach langem Warten endlich so eine Erfahrung des Eingreifens Gottes gemacht haben. In diesem Sinne ist der Text uns bis heute heilig.
Marius Grath
1 Eigene Übersetzung
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2018)
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