19. März 2018

Drei „P“ – und mehr

Von nst5

Offener Brief an Marco Impagliazzo 

Lieber Marco Impagliazzo,

ihr seid schon an die Ränder gegangen, lange bevor Papst Franziskus dazu aufgerufen hat!

Am 7. Februar 1968 tat sich der Gymnasiast Andrea Riccardi mit anderen Schülern und Studenten in Rom zusammen. Es war die Zeit der Studentenbewegungen. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte die Jugendlichen ermutigt, gegen jede Form des Egoismus zu kämpfen und eine bessere Welt aufzubauen. Riccardi und seine Freunde wandten sich den Benachteiligten zu, gaben Kindern in den Barackenvorstädten gratis Nachhilfeunterricht – und trafen sich abends zum Gebet. Sie begannen, sich um alleinstehende Senioren und Wohnungslose zu kümmern. 1973 wählte die junge Basisgemeinschaft einen ehemaligen Konvent an der Piazza Sant’Egidio im römischen Stadtteil Trastevere als Sitz. Heute ist die Laiengemeinschaft in über siebzig Ländern vertreten. Und das, obwohl die Sorge um die Verwundbarsten in unserer Gesellschaft dem von Konsum, Hektik, Leistungsdenken und Konkurrenzkampf geprägten Zeitgeist völlig entgegensteht.

Dennoch übt dieses Gegen-den-Strom-Schwimmen zugleich eine große Faszination aus. Das zeigt sich daran, welch hohe Aufmerksamkeit eure Aktivitäten in den Medien finden: Die Mensen für Bedürftige, allen voran das jährliche Weihnachtsessen in der römischen Kirche Santa Maria in Trastevere. Die „humanitären Korridore“, dank derer besonders gefährdete Menschen aus Flüchtlingslagern im Libanon mit humanitären Visa nach Europa einreisen können – ohne Schlepper und lebensgefährliche Schlauchboote. Ebenso das Aufstehen gegen die Todesstrafe, die „Internationalen Friedenstreffen“ mit Vertretern vieler Religionen und die diplomatische Vermittlungsarbeit zur Befriedung von Krisengebieten – die beispielweise 1992 in Mosambik zu einem Friedensabkommen nach 17 Jahren Bürgerkrieg führte.

Um eure Gemeinschaft kurz zu beschreiben, bieten sich im Italienischen drei „P“ an: Preghiera, Poveri, Pace – Gebet, Arme, Frieden. Aber es geht um mehr. Keinen ausschließen, niemand ist fremd, jeder kann Teil der Gemeinschaft sein: Das ist euer Ansatz. Das Evangelium ist für alle da, der Herr für alle gekommen: Das ist die Triebfeder eures Engagements. Die religiöse Leidenschaft ist immer auch soziale Leidenschaft, ist Einsatz für Mitbürger, für die Gesellschaft: Das ist es, was viele an euch überzeugt.

Ob ihr mit bedürftigen, behinderten, geflüchteten, einsamen oder an Aids erkrankten Menschen zu tun habt: Ihr versorgt sie nicht bloß! Sondern ihr seht in erster Linie den Menschen, pflegt vor allem die Freundschaft mit ihnen. Das gibt eurem Engagement Substanz und macht es so wertvoll.

Um in der Öffentlichkeit für nicht immer populäre Haltungen eintreten zu können, müsst ihr selbstbewusst auftreten. Auf der anderen Seite kann das dazu führen, dass einige von euch auch mal einen etwas elitären Eindruck hinterlassen. Ungeachtet dessen: Auf die Freundschaft mit euch im internationalen Netzwerk „Miteinander für Europa“ sind viele geistliche Bewegungen und Gemeinschaften stolz! – Danke für 50 Jahre kreative Treue zur Ursprungsinspiration von Sant’Egidio!
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Foto: (c) MfE / U. Haaf

Marco Impagliazzo
1962 in Rom geboren und Professor für zeitgenössische Geschichte an der Ausländeruniversität in Perugia, ist Präsident der Gemeinschaft Sant’Egidio. Ihr Gründer ist der Historiker Andrea Riccardi (68).
Weltweit sind über 60 000 Menschen bei Sant’Egidio aktiv – auch aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
www.santegidio.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2018)
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