10. Juni 2009

„Ich habe die Wunde der Welt berührt…”

Von nst_xy

Christoph Schlingensiefs Krebstagebuch – Protokoll einer Lektüre

Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben ge­winnt, wenn er es drangibt. Daran scheitert Gottes Utopie”. Funkelnd geschliffene Sätze wie diese finden sich zuweilen in Christoph Schlingen­siefs jüngstem Buch, den Tagebuchaufzeichnungen des 2008 an Lungenkrebs erkrankten Regisseurs und genialischen Bürgerschrecks mit haarsträu­bend zerzauster Sturm-und-Drang-Frisur. Sätze wie diese sagen: Hier geht einer unbekümmert aufs Ganze. Gemessen daran wirkt der Titel des Buches geradezu provinziell: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!” Wer’s glaubt…
Aber man täte diesem Buch Unrecht, wenn man es der plakativen Diesseitigkeitsbehauptung seines Titels überließe. Denn eigentlich geht es dem 47-jährigen Autor um die Würde, seine „Au­tonomie” als leidendes Individuum gegenüber jeder (auch göttlichen) Fremdbestimmung, die ihn einen provozierend naiven Blick auf das Drama Jesu am Kreuz werfen lässt:
„Ich glaube wirklich nicht, dass Jesus gerufen hat: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben ge­hangen, hat Aua gesagt und was weiß ich … Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom.”
Diese „Autonomie” aber bedeutet zugleich un­bedingtes Vertrauen: „Mein Gott, ich fühle mich geborgen in Dir, ich lasse mich fallen, und glaube an den guten Ausgang in Frieden.” Immer wieder spürt man in diesen frei assoziierenden Einlas­sungen den Versuch, eine dogmatisch verkrustete Gottesrede aufzubrechen, die im Blick auf eine radikal befristete Zeit jede Lust an der Präsenz, einer auch sinnlich erlebten Gegenwart austreibt.
Weitreichender und tiefschürfender sind indes Schlingensiefs Fragen nach dem Sinn des Leidens überhaupt, nach der Botschaft des christlichen Gottes, der seinen Geschöpfen gerade in diesem Aspekt nahe kommt und den Leidenden, Marginalisierten, Schwerstkranken andere, zukunftsweisende Perspektiven auf sich und die Welt eröffnet.
Und dieser Frage geht Schlingensief, etwa in seiner Lektüre von Joseph Beuys’ „Christus denken”, nach. Bei Beuys finden sich markant formulierte Aus­blicke auf einen christlich inspirierten, egalitären, auf alle Menschen „erweiterten Kunstbegriff”. Als Leser behält man vor allem diese Markierungen der Beuysschen Zitate in den troubled waters einer immer auch atemlos-aufgewühlten Erlebnisprosa des krebskranken Autors in Erinnerung.

So schreibt Schlingensief:
„Beuys sagt: ,Zeig mal Deine Wunde.
Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt.
Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.’
Ja, das ist es vielleicht:
Wer seine Wunde zeigt,
dessen Seele wird gesund.”

Das erinnert an die nachösterliche Begegnung des un- oder halb-gläubigen Thomas mit dem aufer­standenen Jesus.
Diese Entblößung bewirkt, so Schlingensiefs Credo als Krebspatient, jene Erkenntnis Gottes, des Anderen mitten in der Welt, im eigenen Leben. Schließlich kann Schlingensief aus eigener Erfah­rung und Anschauung geradezu beiläufig formu­lieren: „Ich habe die Wunde der Welt berührt” – und berührt damit auch den Leser. Welche Einsicht hält nun Schlingensiefs Proto­koll der Krankheit (zugleich eine Hommage an seine Lebensgefährtin Aino) bereit? „Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen, und nicht nur in dem, was wir uns ständig an- und umhängen, um zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, er­folgreich sind. Nein! Wir sind ganz einfach wun­derbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.”
Das ist – natürlich – nicht das letzte Wort in der Sache, aber ein vorläufig gutes Schlusswort ist es allemal.
Herbert Lauenroth

Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-04111-8

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2009)
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