20. Januar 2009

Viele Schritte bis zur Mündigkeit

Von nst_xy


Vor dreißig Jahren wurde im Nordosten Brasiliens eine neue Diözese gegründet.
Ein Deutscher wurde ihr erster Bischof, und die NEUE STADT berichtete 1978 von den Anfängen in Coroatá. Was hat sich inzwischen getan, und vor welchen Herausforderungen steht die Kirche dort heute?

Wir sitzen hier im Urwald – im abgeholzten zwar, aber manchmal ist dennoch irgendein Wurm im Internet-System, auch wenn’s kein Virus ist.“ Bischof Reinhard Pünder – von ihm stammen diese Worte – scheint die Situation mit Humor zu nehmen. Seit 30 Jahren ist der gebürtige Deutsche Bischof in der Diözese Coroatá im Nordosten Brasiliens. Er ist ihr erster Bischof; denn die Diözese „kurz vor dem Amazonasgebiet“ wurde vor dreißig Jahren erst gegründet.
Der Nordosten gilt als das Armenhaus Brasiliens. Der Staat Maranhaõ, in dem die Diözese liegt, nimmt in den Statistiken zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Brasiliens stets den letzten Platz ein. Im Bistum von Dom Reinaldo – so der portugiesische Name des Bischofs – leben gut zwei Drittel der Menschen unter der offiziellen Armutsgrenze, und das Monatseinkommen pro Kopf wird mit 80 Real, das entspricht 24,75 Euro oder 38.50 Schweizer Franken, angegeben. 50 Prozent der Menschen sind jedoch arbeitslos. Diejenigen, die erwerbstätig sind, leben von Gelegenheitsjobs oder Saisonarbeiten und sind deshalb abhängig von städtischen Einrichtungen oder Großgrundbesitzern, die das Bundesland Maranhaõ zum größten Teil noch in der Hand haben.

Nur etwa ein Drittel der Landbevölkerung besitzt auch ein eigenes Stück Land. Industrie gibt es nur sehr wenig, und so wandern viele in andere Gebiete Brasiliens ab.

Diese Rahmenbedingungen prägen die pastorale Arbeit im Bistum, in dem in den dreißig Jahren seines Bestehens die notwendigsten organisatorischen Strukturen aufgebaut werden konnten. Dom Reinaldo spricht von einem „meist sehr guten und geschwisterlichen, frohen und gläubigen Klima“, das alles Tun durchzieht. So entstanden im Lauf der Jahre viele neue Basisgemeinden – insgesamt 880 im Jahr 2008 – und unterschiedlichste Gruppen für Katechese, Liturgie, Diakonie, Familie, Jugend, Mission, Schule und Drogenprobleme. Inzwischen wuchs das Bistum von zehn auf heute 20 Pfarreien und hat statt neun heute 30 Priester, die meisten von ihnen Brasilianer.
Fragt man Dom Reinaldo nach den größten Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, so kommt die Antwort prompt: „Den Mut nicht verlieren angesichts der übermächtig erscheinenden Probleme“. Und in einem seiner „Brasilienbriefe“ 1), die er jährlich an Freunde und Bekannte in Deutschland schreibt, heißt es 2007: „Unser ‚Finanzmathematiker’ hat akribisch die Finanzlage des Bistums und unserer Pfarreien durchleuchtet. Zu unserem Schrecken mussten wir feststellen, dass wir 2006 wegen der zurückgehenden Spenden und dem schlechteren Wechselkurs erheblich über unsere Verhältnisse gelebt haben. Wir reagierten sofort und haben etwa ein Viertel unserer Angestellten sozialverträglich entlassen.“ Auch die Schwesterngemeinschaften konnte die Diözese aus ihrem Budget nicht mehr unterstützen, und viele weitere Ausgaben müssen jetzt von den zumeist armen Gemeinden selbst übernommen werden.
Was den Bischof umtreibt, ahnt man in folgenden Sätzen: „Stehen wir vor einer ‚spiritualistischen Wende’ oder einer ‚Beschränkung auf das Kerngeschäft’, wie sie in Deutschland diskutiert werden? Wie könnte das sein, wo doch unser engagierter Einsatz in sozialen Nöten gerade unser ‚Markenzeichen’ ist! Die Schritte, die wir jetzt tun müssen, sind eher ein Fortschritt in Richtung Mündigkeit unserer Einrichtungen.“

Was steckt hinter diesen Worten? Die vielfältigen sozialen Probleme haben zu einem großen Teil kulturelle Wurzeln.

Die portugiesische Besiedlung der Gegend begann 1614. Von der Stadt São Luís aus drangen weiße Siedler allmählich ins Landesinnere bis in die Gegend des heutigen Bistums vor, das zwischen 100 und 260 km von der Küste entfernt liegt. Die Portugiesen kamen, um hier als Kolonisatoren und Kaufleute schnell zu Reichtum zu gelangen, den sie in ihrer europäischen Heimat anlegen und genießen wollten. Sie kamen also von Anfang an nicht, um zu bleiben. Die portugiesische Krone überließ ihren ehemaligen Soldaten und Beamten riesige Landstriche zur Bewirtschaftung und mit der Auflage, für die Missionierung zu sorgen. Die ansässigen Indios waren aber keine Spezialisten in der Landwirtschaft. Die reiche und üppige Natur hatte ihnen auch so alles gegeben, was sie zum Leben brauchten. Da die Siedler das Land bewirtschaften und daraus Nutzen ziehen, selbst aber nicht hart arbeiten wollten, holten sie Sklaven aus Afrika, die Erfahrung in tropischer Landwirtschaft mit sich brachten. Und weil die portugiesische Krone nur christliche Untertanen duldete, wurden diese Sklaven nach der Überfahrt fast ohne Vorbereitung getauft. Auch die Siedler selbst praktizierten ihren Glauben nur oberflächlich, und so fehlte eine christliche Mentalität. Sklaven, insbesondere Frauen, hatten keine Rechte. Die Armen waren der Obrigkeit ausgeliefert.
Die Skalvenbefreiung vor gut 110 Jahren hat die Lage der einfachen Landbevölkerung nicht verbessert. Jetzt hatte niemand mehr die Verpflichtung, sie zu ernähren oder in Krankheit und Alter für sie aufzukommen. Die Besitzenden haben die Mentalität der alten Kolonisatoren geerbt und bis
heute bewahrt. Bischof Pünder fasst deshalb zusammen:

„Kolonialismus und Sklaverei haben so eine Gesellschaft geformt, die Menschen unfähig macht, die Nöte anderer zu sehen und die sie gleichzeitig anfällig macht für Korruption, Diebstahl und Gewaltanwendung, eine Gesellschaft, die Männer zu ‚Machos’ werden lässt.

Die an den Rand Gedrängten bleiben passiv und fatalistisch, die Familien weitgehend dialog- und erziehungsunfähig. Glaube und Evangelium haben diese Prägungen bisher kaum durchformen können.“ Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die siebte Diözesanversammlung im vergangenen Jahr ganz klar zwei Schwerpunkte gesetzt hat: eine ganzheitliche, menschlich-christliche Bildung und der Einsatz für eine am Gemeinwohl orientierte Politik.

Trotz der großen finanziellen Probleme ahnt man aber auch welche Chance in dieser für das Bistum schwierigen Situation steckt:

Wenn es gelingt, dass die Menschen vor Ort sich selbst verantwortlich fühlen, dann wird sich immer mehr eine Kirche „von unten“ aufbauen, die fähig sein wird, auch die bestehenden sozialen Probleme der Diözese und des Landes zu lösen.
Sicher kein leichter Prozess, das weiß auch Reinhard Pünder. „Mein Leitwort als Bischof ist: ‚Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!’ Das bedeutet für mich, als erstes meinen geistlichen Pflichten treu zu sein!“ Auf dieser Basis will Dom Reinaldo auch in den letzten fünf Jahren vor seinem Ruhestand dann alles Notwendige tun, um das Bistum und seine Pfarreien lebensfähig, ja möglichst stark zu machen.
Gabi Ballweg

1) Die „Brasilienbriefe“ der letzten drei Jahre sind im Internet unter www.brasilienbriefe.de nachzulesen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2009)
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