10. April 2009

Bloß kein spießiges Leben

Von nst_xy

Im Laufe von dreißig Jahren hat das Ehepaar Zander über dreißig Kindern ein Zuhause und eine Familie gegeben. Das war – wie die beiden gestehen – manchmal unbequem, aber immer sehr erfüllend.

Vorhin beim Vormundschafts­gericht hatte der Vormund Sigrun (65) und Peter (63) Zander gefragt, was sie mit Elias 1) gemacht hätten; seine Augen seien jetzt ganz anders. Der Zwölfjährige, den seine Mutter verlassen hatte, lebt erst seit vier Monaten bei den Zanders.
Am Tag zuvor waren sie mit Pflegetochter Karina (19) beim Jugendamt. Wenn sie noch bis Schuljahresende durchhält, kann sie eine richtige Berufsausbildung beginnen und hat Aussicht auf ein Leben in Selbständigkeit und Eigenverantwortung!
Zanders’ „Kinderhaus” in dem ländlichen Hückelhoven zwischen Düsseldorf und Aachen ist eine vom Land Nordrhein-Westfalen anerkannte Einrichtung für Kinder, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können: weil die Eltern sich getrennt haben, überfordert, sucht­krank oder psychisch krank sind oder die Kinder verwahrlosen.

Neben der professionellen Hilfe brauchen die Kinder eine „Ersatzfa­milie”, in der sie sich angenommen und geborgen wissen. Acht Kinder sind es zurzeit im Alter zwischen 12 und 19. Jedes hat „ein gehöriges Päckchen zu tragen”, wissen die Pflegeeltern. Und da bringt jeder Tag heftige Herausforderungen.

Auf die Frage, warum sie sich ihr Leben so unbequem gestalten, antworten Zanders mit einem Wort des verstorbenen Aachener Bischofs Klaus Hemmerle: „Die Menschen sind nicht so, wie sie sind, sondern wie sie geliebt sind.”
Über dreißig Kinder haben Zanders als Pflegeeltern schon be­gleitet. Manche haben ihren Weg gefunden, andere weniger, vielleicht auch, weil sie auf Initiative der leib­lichen Eltern zu früh aus der Pflege­familie herausgerissen wurden.
Kennengelernt haben sich der Mecklenburger Peter und die Berli­nerin Sigrun in einem Kinderheim, wo beide als Sozialpädagogen arbeiteten. Ihre Hochzeitsreise (1971) führte nach Tunesien, in die Sahelzone.
Alles, nur kein spießiges Leben wollten die beiden führen. Auf ihre Bewerbungen für Entwick­lungshilfe in Afrika bekamen sie gleich eine Zusage für Somalia. Doch schon an Weihnachten 1972 wurden sie nach einer politischen Wende im Land Knall auf Fall aus­gewiesen. Es folgten drei Jahre in Madagaskar, wo Marcel und An­drea, die ersten beiden ihrer drei Kinder geboren wurden. Auch hier mussten sie wegen politischer Unruhen das Land verlassen und kamen nach Mali. Nach drei Jahren dort wurde Sigrun zum dritten Mal schwanger. Aus gesundheitli­chen Gründen musste sie mit den beiden Kindern nach Düsseldorf zurück; rechtzeitig zur Geburt der Tochter Anja im Oktober 1979 war auch Peter zurück.
Zu fünft als normale Familie um den großen Esstisch von Peters El­tern zu sitzen: Das konnte es nicht sein! Verschiedene, auch lukrative Projekte boten sich an. Im Bereich der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern war es gerade aktuell, die jungen Schützlinge nicht in Heimen, sondern eher in kleinen Einrichtungen unterzubringen. Mindestens sechs Pflegekinder gehören dazu. In Hückelhoven fanden Zanders einen geeigneten Flachbungalow, den sie kauften und vollständig einrichten mussten, bevor sie die Erlaubnis bekamen, ein Kinderhaus zu eröffnen.
Die Kinder, die sie dann zu betreuen hatten, kamen oft aus ex­tremen Erfahrungen. „Mir wurde bald klar, dass ich eine Kraftquelle brauchte”, erzählt Sigrun. Als eins der Kinder zur Erstkommunion gehen wollte, näherte sie sich wieder der katholischen Kirche an, von der sie sich einmal entfernt hatte, weil Glauben und Leben so weit auseinander zu klaffen schienen. Für Peter war – prak­tisch parallel dazu – die Anmeldung seines Sohnes zum Konfirmandenunterricht Anlass, mit der evangelischen Gemeinde wieder in Verbindung zu treten.
Auf unterschiedlichen Wegen kamen die beiden dann nahezu zeitgleich mit der Fokolar-Bewegung in Kontakt: Sigrun las im Pfarrbrief etwas von einem Treffen zum Thema „Leben mit dem Wort” und ging hin. Und Peter, der für die SPD im Stadtrat saß, akzeptierte – wenn auch reichlich irritiert – den Wunsch eines CDU-Kollegen, doch einmal zu ihnen ins Kinder­haus zu kommen. Bei dem Besuch lud der Christdemokrat dann den Sozi zu einem Kongress nach Rom ein. Das Thema klang für den Alt-68er interessant: „Kultur der Ein­heit für den Frieden der Völker”.

Was es mit der viel zitierten „Ein­heit” auf sich hatte, konnte Peter Zander schon auf der Busfahrt erleben: die Offenheit füreinander, die Unmittelbarkeit, mit der echte und tiefe Beziehungen entstanden, der innere Gleichklang in dem An­liegen, die Welt im Kleinen wie im Großen friedlicher zu gestalten – all das überzeugte Peter Zander darin, dass die Spiritualität, die hinter dieser Bewegung steckte, auch sein Leben befruchten konnte.

Selbst seine evangelischen Schwel­lenängste vor dem katholischen Rom erwiesen sich als unbegründet.
Auch Sigrun fand in der Fokolar-Spiritualität wichtige und hilf­reiche Impulse: das alltägliche „Leben nach dem Wort”, der Aus­tausch darüber mit anderen, die immer wieder neue Entscheidung dafür, in allen Lebensfeldern Ein­heit zu suchen durch die prakti­zierte Liebe.
1988 waren die ersten vier Pfle­gekinder groß. Eigentlich hatten Zanders das Kinderhaus nur zehn Jahre lang führen wollen. Aber der Bitte von offizieller Seite, weiter­zumachen, konnten sie sich nicht entziehen. Mit vier kleinen Ge­schwistern ging es von neuem los.
Nächstes Jahr wird das Hückelhovener Kinderhaus 30 Jahre alt. Und es waren auch 30 Jahre voller Schwierigkeiten, Rückschläge, Kämpfe. Wichtig ist den beiden Zanders auch das, was sie „die Einheit unter uns” nennen. Sie meinen die Bereitschaft zu einer Liebe, die den anderen immer wieder neu annimmt und bedin­gungslos zum anderen steht. Dass sie zu dieser Liebe nur mit der Kraft Gottes in der Lage sind, haben sie im Laufe der Jahre auch gelernt.
2003 kam zu dem ursprünglichen Haus ein zweites hinzu. Es ist nach „Rabije” benannt, dem muslimi­schen Mädchen aus dem Kosovo, das 1995 zu Zanders kam. Obwohl schon ein Jahr alt, war Rabije auf dem Stand eines vier Monate alten Babys. Bis zu einer lebensnotwen­digen Lebertransplantation sollte sie im Kinderhaus stabilisiert werden. Doch in der guten Atmo­sphäre machte sie in ihrer Ent­wicklung Riesenschritte: Sie lernte zu lächeln sowie sich mit Gesten und auch einigen Worten mitzu­teilen. Nach der Operation gab es Komplikationen, Rabije starb. Ihr kurzes Leben war dennoch für alle ein besonderes Geschenk.
„Wir haben irgendwann erkannt, dass Gott uns immer zielgenau ge­führt hat”, so die Überzeugung von Sigrun und Peter Zander. Deshalb sind sie auch gelassen im Blick auf die Frage, wie es mit dem Kinder­haus nach ihrer bevorstehenden Pensionierung weitergehen wird. Sie sind überzeugt, dass es ir­gendwo ein Ehepaar gibt, das die fachliche und geistliche Kompe­tenz mitbringt, um ihr Kinderhaus weiterzuführen. Und sie sind ge­spannt darauf, wann sie diesem Ehepaar begegnen werden!
Dietlinde Assmus
1) Die Namen der Kinder sind von der Redak­tion geändert.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2009)
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