Seid, wie ihr sein sollt!
Stellen Sie sich vor, jemand wünscht Ihnen: „Sei, wie Du sein sollst!” – Ist das nicht eine Anmaßung, wenn jemand zu wissen glaubt, wer oder wie ich sein soll? Möglicherweise arbeite ich mich schon ein halbes Leben lang daran ab, nur herauszufinden, wer ich bin. Und dann glaubt jemand, er habe genau das verstanden!
Doch was wären die Alternativen? Sicher nicht der Wunsch: „Werde wieder der, der Du einmal warst!” – So sehr wir selbst uns das manchmal wünschen würden: Entwicklungen in unserem Leben lassen sich nicht ungeschehen machen. Zurückzukehren zu einem vergangenen Zustand, ist ein unwirklicher, illusorischer Wunsch.
„Bleib, wie Du bist!” – Das wünschen wir uns schon öfter. Darin steckt wohl meistens die Hoffnung, es möge sich mit einem Menschen nicht zum Negativen wenden. Und der Wunsch drückt aus, dass ich einen Menschen so mag, wie er ist. Andererseits aber räume ich ihm nicht allzu viel Entwicklungspotential ein. Warum auch, wenn es so, wie es ist, doch gerade gut läuft? Jetzt wissen wir, woran wir mit einem Menschen sind. Wer weiß denn schon, wie er sich entwickeln wird? – Der leichte Egoismus, der aus diesem Wunsch spricht, ist unüberhörbar!
Also doch: „Sei, wie Du sein sollst!”? – Es mag sein, dass ein solcher Wunsch nach Zumutung klingt. Aber das sollten wir einander wert sein. Es ist meines Erachtens der Wunsch, der am meisten dem Menschen und seiner Würde entspricht, weil er nach vorne offen ist.
Freilich setzt dieser Wunsch etwas Wichtiges voraus: Das Maß dafür, wie der andere „sein soll”, darf ich nicht in mir suchen. Sonst presse ich den anderen lediglich durch die Stanzform meiner Idealvorstellungen von ihm.
„Die Liebe ist das Gefühl für die Gestalt des anderen”, schreibt der Moraltheologe Dietmar Mieth in Abwandlung eines Zitats von Peter Handke. Wer wirklich liebt, entwirft sich sein Bild vom anderen nicht aus sich selbst, will den geliebten Menschen nicht sich selbst gleichförmig machen, sondern lässt ihn frei und erträgt die immer wieder neue Entfremdung, die aus diesem Freilassen erwächst. Wer liebt, sieht tiefer, richtet den Blick auf das Wesen des anderen, auf sein Potential, seine Berufung.
Wer liebt, sehnt sich nicht nach dem, was der andere einmal war, sondern nimmt ihn an, wie er ist und richtet den Blick zugleich darauf, wie der andere sein soll. Und wer liebt, ist ständig bereit, das Bild, das er sich von der Bestimmung des anderen gemacht hat, neu werden zu lassen. Denn es speist sich aus einer Quelle, über die beide nicht verfügen.
„Seid die, die ihr sein sollt!”, hat der evangelische Pfarrer Thomas Römer seinen Freunden von der Fokolar-Bewegung am ersten Todestag von Chiara Lubich zugerufen (s. Eine Gabe für die Welt). Ich wünsche mir mehr solcher Freunde.
Ihr
Joachim Schwind
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2009)
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