10. April 2009

Wohin steuert die Fokolar-Bewegung?

Von nst_xy

Aus Anlass des ersten Todestages von Chiara Lubich sprach unser argentinischer Kollege Alberto Barlocci mit der Präsidentin der Fokolar-Bewegung, Maria Emmaus Voce.
Man sagt, wenn die Gründerin oder der Gründer stirbt, sei das für ein Werk in der Kirche schwierig oder sogar eine Prüfung. Gilt das auch für die Fo­kolar-Bewegung?
Voce: Es ist sicher ein ganz besonderer Moment. Aber ich denke, ich kann mit Recht sagen, dass es keine Prüfung für uns ist: Es herrscht kein Gefühl von Sehn­sucht, denn Chiara ist spürbar präsent. Ich erlebe ihre Nähe. Deshalb scheint es mir fast unnatürlich, wenn jemand von der Zeit „nach Chiara” spricht. Täglich erfahren wir diese lebendige Beziehung zwischen Himmel und Erde. Wir sind mit ihr – auf ganz wesentliche Weise. Das, was Chiara uns in all diesen Jahren gesagt hat, scheint jetzt sogar einen noch tieferen Wi­derhall zu haben und ist wie eine Aufforderung an uns, es mit immer neuer Entschieden­heit zu leben. Mehr noch, ich habe den Eindruck, dass die Fokolar-Bewegung nach dem Heimgang Chiaras zum Vater einen Schritt nach vorn ge­macht hat. Beim Requiem sagte ein thailändischer Buddhist: „Chiara gehört auch uns.” Und das breite Echo auf ihren Heim­gang in der Presse scheint das zu bestätigen, ebenso wie die unzähligen Initiativen, die Persönlichkeiten und Organisationen aus dem gesellschaftlichen und kirchlichen Leben in Italien und der ganzen Welt anregen, weil sie das Vermächtnis Chiaras vertiefen und leben wollen.
Viele, die das Charisma der Einheit in der ganzen Welt kennengelernt haben, werden sich fragen, wie es jetzt weiter geht: ob die verschiedenen Dialoge -innerhalb der Kirche, mit den anderen christlichen Kirchen, den anderen Religionen und mit der zeitge­nössischen Kultur – fortgeführt werden. Was sagen Sie diesen Menschen?
Voce:
Ja, diese Fragen bewegen tatsächlich viele. Das erfuhr ich zum Beispiel bei einer Gruppe von Politi­kern, die mich kurz nach meiner Wahl treffen wollten. Auch Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, und Nichiko Niwano, der Präsident der Rissho Kosei Kai, einer großen buddhistischen Lai­enbewegung in Japan, suchten eine Antwort darauf, als sie im Juli ans Zentrum der Bewegung kamen.
Auch die afroamerikanischen Muslime von W.D. Mo­hammed wollten mich treffen. Und kürzlich hatte ich in der Schweiz eine Begegnung mit Verantwortlichen von kirchlichen Bewegungen und Gemeinschaften verschiedener Kirchen. Mit ihnen bemühen wir uns seit Jahren darum, Europa eine Seele zu geben. Die Sorge und der leichte Schatten der Trauer auf ihren Gesichtern wichen einer echten Freude, als wir mit jedem einzelnen das Bündnis der gegenseitigen Liebe erneuerten, das sie seit Jahren mit Chiara und der Be­wegung verbindet.
Sie sind seit einigen Monaten Präsidentin. Wie sehen Sie die Fokolar-Bewegung heute, was hat Sie in dieser Zeit besonders bewegt?
Voce:
Ich habe den starken Eindruck, dass wir vor allem bei allen unseren Dialogen die größtmögliche Öffnung und den größtmöglichen Einsatz zeigen müssen, damit dieses Charisma bis an die Enden der Erde ge­langen kann – über alle Tren­nungen hinweg, unabhängig von aller Unterschiedlichkeit.
Im Augenblick durchlebt die Welt eine tiefe Krise. Die Fokolar-Bewegung kann bei­tragen, Beziehungen aufzu­bauen, in denen das „Sein” im Mittelpunkt steht und nicht das „Haben”; das Geben; die Bereit­schaft, etwas von sich selbst für andere zu schenken, statt die
anderen für die eigenen Interessen auszunutzen. Sie kann beitragen, eine neue Kultur hervorzubringen: die Kultur des Gebens, der Dankbarkeit, der Gegen­seitigkeit in allen Beziehungen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Fo­kolar-Bewegung?
Voce:
Die größte Herausforderung ist sicherlich die Treue zum Charisma von Chiara: der Einheit, die immer wieder neu die Gegenwart von Jesus unter uns ermöglicht, sein Licht, mit dem er uns führen kann. Das ist das große Vermächtnis, das uns anvertraut ist. Dafür gibt es ein starkes Verantwortungsbewusstsein bei allen Angehörigen der Bewegung. Alle spüren die Verantwortung, vor allem anderen die gegensei­tige Liebe lebendig zu halten – mit jenem Maß, das das Evangelium vorgibt. Und das entdecken wir von Tag zu Tag mehr als Herausforderung, denn es wird uns zunehmend bewusst, dass das die Voraussetzung dafür ist, „das Göttliche” hervorzubringen, jene Fülle des Lebens, auf die die Menschheit heute mehr denn je wartet.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2009)
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