10. Januar 2010

Drahtseilakt im Nichts

Von nst_xy

Vor drei Jahrzehnten hat der italienische Arzt Ciro Fusco seine Heimat verlassen, um einer verrückten Liebe treu zu bleiben.

Seit gut 30 Jahren ist Ciro Fusco nun schon als Arzt in Afrika tätig. Die ersten sechs Jahre war er in Kamerun und anschließend in Ambatondrazaka, einer Stadt im Nordosten von Madagaskar, etwa 150 Kilometer von der Hauptstadt Antananrivo entfernt. Es sind 30 Jahre im ärztlichen Dienst, im Geist der Geschwisterlichkeit, den sich die Fokolare überall auf der Welt auf ihre Fahne geschrieben haben.
Kennen gelernt hat Ciro Fusco diesen Geist mitten in den Unruhen der 68er, zu denen er sich zählt. Ciro gehörte in Italien zu den ersten „Gen“, jener „neuen Generation“ in der Fokolar-Bewegung, die weder im Kapitalismus, noch im Kommunismus die Kraft zur Veränderung dieser Welt suchten. „Wir glaubten an die umstürzende Kraft des Evangeliums“, sagt Ciro, der sich zurzeit gerade einmal wieder für ein paar Wochen in seiner Geburtsstadt Neapel aufhält.
Das Ideal, das ihm damals Chiara Lubich vor Augen stellte, war – wie er sagt – kein Gedankengebäude, sondern eine Person: Jesus, am Kreuz, von Erde und Himmel verlassen. Kein siegreicher, sondern ein geschlagener und verzweifelter Gott. „Dieser Typ“, so drückt er es aus, „hat mich aus dem Konzept gebracht. Ich habe mich in diesen Gott regelrecht verliebt und für ihn alles verlassen.“

Ciro Fusco folgte dem Ruf der noch ganz im Aufbau befindlichen Fokolar-Gemeinschaft nach Madagaskar. Und das bedeutete, sich ganz und gar auf die dortige Kultur einzulassen.

Ciro Fusco machte sich daran, vor allem die positiven, wertvollen Aspekte der Madagassen zu entdecken, wie die Bewohner der Insel genannt werden. So sieht er zum Beispiel nicht nur die Armseligkeit der heruntergekommenen Hütten, in denen die Menschen wohnen, sondern auch die Blumen auf den meisten Fensterbrettern, die daran erinnern, dass im madagassischen Hochland eine ausgeprägte Blumentradition gepflegt wird.
Oder die Liebe der Madagassen für den Gesang und den Tanz! Es waren am Anfang fremde, extrem langsame Rhythmen für den italienischen Arzt. Aber die Schönheit des Gesangs, der sich wellenförmig entwickelt, erinnerte ihn an das Meer, von dem die Inselbewohner geprägt sind. „Und das rief in mir die inzwischen fast verschüttete Sangestradition meiner Heimatstadt Neapel wach“, sagt Ciro schmunzelnd.
Der Arzt ist in der Schilderung der Vorzüge des madagassischen Volkes richtig in Fahrt gekommen: „Nehmen wir die Gastfreundschaft der Leute hier. Sie verbirgt sich manchmal hinter einem Nützlichkeitsdenken, das sich in der Formel ‚Atéro ka alào’ (‚Ich gebe, um zu bekommen’) ausdrückt. Aber das kommt von der Not, in der viele hier leben. Ihrer Tradition nach gewähren die Madagassen mit großer Freude Gastfreundschaft. Wenn ein Fremder (vahiny) zum Essen eingeladen ist, überreicht ihm der Gastgeber immer ein Geschenk und hält dazu eine Rede (kabary), um den Gast zu ehren. Und wenn die Menschen hier einem etwas zu essen anbieten, dann essen sie selbst mit. Nicht, um zu beweisen, dass das Essen nicht vergiftet ist. Vielmehr wollen sie ausdrücken, dass sie ganz mit dem sind, dem sie etwas anbieten.“

„Und dann gibt es noch das fihavanana“, fährt Ciro Fusco fort. Es bedeutet in etwa „Verwandtschaft, Freundschaft, Solidarität“ und ist die madagassische Grundeinstellung zum Leben und zur Welt, die Basis der Gesellschaft. Fihavanana umfasst die Beziehungen in der Familie, mit den Vorfahren, mit Gott, mit der Natur. Es drückt aus, dass niemand für sich allein lebt.

Als weiteren Wert der madagassischen Kultur nennt Ciro Fusco die Demut. „Bevor man öffentlich das Wort ergreift, bittet man um Entschuldigung. Und in den Fragen und Antworten ist man niemals direkt. Man lässt immer dem anderen den Spielraum, sich noch deutlicher auszudrücken.“ Das führt dazu, dass Madagassen oft zunächst einmal das antworten, was – ihrer Meinung nach – der andere hören möchte, und das fragen, von dem sie wissen, dass der andere darauf antworten kann. „Das ist aber kein Ausdruck von Verlogenheit“, beeilt sich der Arzt zu unterstreichen, „sondern der taktvolle Versuch, den anderen nicht zu verletzen mit einer schnellen Antwort, die kein Wenn und Aber mehr gestattet.“
Dasselbe gilt für die Haltung, die mit dem Ausdruck „moramora“ bezeichnet wird, auf deutsch in etwa: „Nur immer mit der Ruhe!“ Dahinter stecke nicht Faulheit oder Trägheit, betont Doktor Fusco, sondern eine kluge Umsichtigkeit, mit der die Madagassen darauf achten, dass sie mit dem, was sie tun oder sagen, keinem anderen weh tun.
Hier drängt sich eine Frage auf: Seit Jahrzehnten lebt Ciro Fusco in dieser Kultur, sucht in sie einzudringen, sie sich zu Eigen zu machen. Wie geht es ihm, wenn er nun wieder einmal in seiner Heimat ist? – „Es war für mich ein Schock, in eine Gesellschaft zu kommen, in der Gott keine Rolle mehr spielt“, gesteht der Arzt unumwunden. Die Leute interessierten sich für Lotto, für den Urlaub, für die Spielereinkäufe ihres Fußballvereins – für alles, was mit Besitz und ihrem Erscheinungsbild zu tun hat.
Ciro Fusco hält ein wenig inne. „Aber irgendwann ist mir klar geworden, dass Gott vielleicht viel mehr da ist, als damals, vor 30 Jahren, als ich Italien verlassen habe.“ Der Arzt bemerkt, dass sein Gedankengang erklärungsbedürftig ist: „Damals bin ich nach Afrika gegangen, aus Liebe zu diesem verlassenen und gescheiterten Gott, in den ich mich in meinem jugendlichen Schwung verliebt hatte. Ich habe ihn in Afrika, in Madagaskar gesucht – und gefunden: im körperlichen Leid, im äußeren Elend, in der materiellen Armut. Jetzt – hier in Italien – finde ich ihn noch mehr. Denn hier ist er wirklich verlassen.“

„Mir sind hier irgendwie alle Bezugspunkte verloren gegangen“, fährt der Arzt fort. „Ich habe in dieser westlichen Gesellschaft das Gefühl, mich zu bewegen wie auf einem Seil über dem Abgrund des Nichts.

Und ich habe das Gefühl, dass dieses Seil nirgends mehr befestigt ist. Aber vielleicht ist genau das der Grund, warum ich während meines Aufenthaltes hier in Italien selbst für so viele Menschen zu einem Bezugspunkt geworden bin.“
Oreste Paliotti

Madagaskar
ist mit etwa gut 20 Millionen Einwohnern und einer Fläche von knapp 590 000 Quadratkilometern die viertgrößte Insel und der flächenmäßig zweitgrößte Inselstaat der Welt. Die Präsidialrepublik liegt rund 400 Kilometer vor der Ostküste Mosambiks im Indischen Ozean. Ehemals französische Kolonie (bis 1960) zählt Madagaskar heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Wichtigste Exportgüter sind Kaffee, Zuckerrohr, Gewürznelken, Pfeffer und Vanille. Die Bevölkerung ist zum großen Teil malaiisch-indonesischer Abstammung, einige Bevölkerungsgruppen haben aber auch afrikanische und arabische Wurzeln. 52 Prozent der Madagassen gehören traditionellen Religionen an, 7 Prozent sind Muslime. Von den 41 Prozent Christen sind gut die Hälfte katholisch, die anderen evangelisch.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2010)
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