10. Januar 2010

Du kannst mehr tun!

Von nst_xy

Eines Tages klingelte es an unserer Tür. Draußen stand eine junge Frau, die mich um etwas zu essen bat. Spontan sagte ich ihr, dass ich ihr nichts geben würde, und wollte die Tür schon wieder zumachen. Die junge Frau sagte nichts, aber ich sah die Enttäuschung und Traurigkeit auf ihrem Gesicht. Das berührte mich, und ich erinnerte mich an meinen Vorsatz an diesem Morgen: jeden Nächsten, der mir begegnete, konkret zu lieben.
Ich bat die junge Frau einen Moment zu warten und packte ihr etwas zu essen zusammen. Als ich ihr das in die Hand drückte, schaute ich sie genauer an. „Du kannst noch mehr tun!“, schoss es mir da durch den Kopf. Mir war aufgefallen, dass sie alte, abgenutzte Kleider trug, die schon an mehreren Stellen geflickt waren.
Wieder bat ich sie, kurz zu warten. Ich ging zu meinem Kleiderschrank und suchte ein paar Dinge heraus, die ihr passen konnten. Als ich ihr das in einer Tüte in die Hand drückte, standen ihr die Tränen in den Augen; sie wusste offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Mir ging es genauso! So schauten wir uns nur einen Moment intensiv an, aber in diesem Blick brach für mich ein Stück Himmel auf … und vielleicht auch für sie. V.S

Was konnte ich ihnen noch geben?
Als Lehrerin an einer Realschule unterrichte ich Religion und Deutsch. Einer meiner Grundsätze dabei ist: Jedes Kind hat ein Recht auf Liebe. So versuche ich, ihre Fähigkeiten ins Licht zu rücken und nicht ihre Mängel.
Im Sommer habe ich nach sechs Jahren Klassenleitung mit meiner 10. Klasse Abschluss gefeiert. Das ist immer eine besondere Zeit, zumal in diesem Schuljahr: Eine Schülerin hatte ein Kind bekommen. In der Zeit der Entscheidung, ob sie das Kind austrägt, und während der Schwangerschaft, hatte ich sie – zusammen mit der ganzen Klasse – sehr intensiv begleitet.
Die Geburt eines kleinen Jungen war dann auch ein großes Ereignis in der Klasse. Als der Abschluss näher rückte, stellte sich mir die Frage, wie ich mich von der Klasse verabschieden konnte. Da es in der Klasse oft nach Schweiß und billigem Deo gerochen hatte, kam ich auf die Idee, ein gutes Männer- und Frauenparfüm zu kaufen, das ich dann zu Hause in kleine Duftfläschchen abfüllte und mit einer persönlichen Karte für jeden versah. Übergabe sollte am letzten Schultag sein – eine Woche vor der Abschlussfeier und dem Abschlussball. Zunächst besprachen
wir noch Organisatorisches. Danach ging ich kurz ins Lehrerzimmer, um meine Briefumschläge zu holen.
Die letzten offiziellen Schultage werden oft als „Chaostage“ genutzt, um noch etwas „anzustellen“. Als ich wieder bei der Klasse ankam, floss mir schon auf dem Flur Wasser entgegen, das Klassenzimmer selbst war teilweise unter Wasser gesetzt. Ich dachte bei mir: Ganz ruhig bleiben, sonst setzt du alles aufs Spiel. Ich forderte die Schüler auf, zu putzen, während ich noch einmal ins Lehrerzimmer ginge und nach einer Viertelstunde wiederkäme. Schon nach fünf Minuten klopfte jedoch die Putzfrau aufgeregt am Lehrerzimmer. Die Schüler würden weiter ganze Eimer Wasser im Klassenraum auskippen.
Ich eilte nach oben mit dem Stoßgebet: „Gott, lass mich jetzt ruhig reagieren.“ Im Klassenraum triefte inzwischen auch der eine oder andere Schüler vor Nässe. Da stand ich nun mit meinen persönlichen Abschiedsbriefen. Ich holte einmal tief Luft, setzte mich dann auf einen Tisch, zog die Beine hoch, und ließ sie noch mehr Lappen und Eimer beim Hausmeister holen. Scherzhaft kommentierte ich ihre Putzaktionen.
Nach einer halben Stunde war die Arbeit getan, meine Laune gerettet und ich konnte jedem persönlich meinen Brief inklusive Duft übergeben. Da wurde es plötzlich ganz still und eine Schülerin fragte: “Dürfen wir den auch aufmachen?“ – „Danke!“ kam von einigen, von anderen bekam ich am nächsten Tag einen persönlichen Brief zurück. Diese Aktion war ein Schlüsselerlebnis für den gesamten nachfolgenden Abschluss und prägte ein herzliches Miteinander. I.M.

Die Ärzte konnten nicht mehr helfen.
Vor einiger Zeit hat ein Junge beim Spielen absichtlich meine Schwester verletzt. Als ich ihn bat, aufzuhören, warf er einen Stock nach mir. Einige Splitter drangen in mein Auge. Im Krankenhaus musste ich drei Tage auf die Operation warten, und danach konnte ich nichts mehr sehen. Ein zweiter Eingriff war sehr schmerzhaft. Die Medizin, die ich danach bekam, hatte zur Folge, dass ich eine Stunde wie gelähmt war. Und ich hatte Angst, nicht mehr laufen zu können.
Trotz allem spürte ich, dass ich dem Jungen vergeben musste. Und ich wollte auch meiner Familie helfen, das zu tun. Als ich mich dazu durchgerungen hatte, spürte ich wieder neues Vertrauen in Gott und bat ihn um die Kraft weiter zu gehen. Als die Ärzte mir sagten, dass sie mir nicht mehr helfen konnten und ich auf dem Auge nicht mehr sehen würde, dachten alle, dass ich losweinen würde: „Aber warum sollte ich traurig sein, über etwas, das mir gar nicht gehört hatte. Ich danke Gott, dass er mir zwei Augen gegeben hat, und ich jetzt nur eines verloren habe.“
Letztes Jahr war es dann möglich, dass ich eine Augentransplantation bekam und jetzt wieder auf beiden Augen sehen kann. Rose Angela (Kenya)

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2010)
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