10. Januar 2010

Ideales Ambiente

Von nst_xy

Besuch beim Siedlungsprojekt „Mariapolis Vita“ im belgischen Wesemaal/Löwen

Das hügelige Hageland ist eine beliebte Erholungsgegend für Radtouristen, eine grüne Obstregion, östlich von Löwen, 30 Kilometer vom internationalen Flughafen Brüssel entfernt. Von dort sind soeben einige Unternehmer und Manager abgeholt worden und zum modernen Tagungszentrum „Einheit“ in Rotselaar-Wesemaal gebracht worden. Sie interessieren sich für Zukunftsfragen der Wirtschaft. Wie der Augsburger Agenturchef Ludger Elfgen oder der Schweizer Baustoffhändler Martial Vuignier checken sie am glattgrünen Milchglas-Tresen ein.
Man weiß nicht, was erhebender ist: die einladende Foyer-Architektur oder die netten Gastgeber, die die Tagungsteilnehmer aus Nordwest-Europa begrüßen. Am Empfang, im Servicebereich oder in den Übersetzerkabinen, überall hilfreiche Menschen. „Es ist doch unser eigenes Begegnungszentrum“, antwortet nicht ohne Stolz Rob Claes (55) mit flämischem Akzent auf die Frage nach all den dienstbaren Geistern. „Festangestellte haben wir noch gar nicht.“ Schlichter Pulli, lichtes Haar und leicht gebeugt scheint er nichts lieber zu tun, als sich den Menschen zuzuwenden. Mit zehn netten Damen und Herren gehört Rob Claes zum Team der Fokolar-Bewegung, das sich ehrenamtlich im Turnus um das neue Zentrum „Einheit“ kümmert. „Heute bin ich für die Dokumentation zuständig“, sagt er und macht schmunzelnd ein Foto von den Gästen.
Von außen ein unscheinbares Doppelhaus, nach hinten praktische Tagungsarchitektur, ein 3,5-Millionen-Spendenprojekt, gestaltet vom belgisch-argentinischen Architektenduo Francis Keutgens und Marcello Pardo. Neben Glasfluchten mit Blick ins Grüne mündet das moderne Foyer in ein Halbrund flexibel abteilbarer Tagungsräume. Bis zu 300 Plätze bilden den Halbkreis um den Lichtschacht über der runden Hauptbühne.
Mit dem Fotoapparat vor der Brust führt uns Rob Claes durchs Haus: links die Kapelle, daneben der Speisesaal mit großer Terrasse. Über die offene Treppe geht’s in den ersten und zweiten Stock: Sitzgruppen für Gespräche, modern eingerichtete Gruppenräume und Doppelzimmer, Kunst an den Wänden, hier und da eine Pflanze – mit seinem erfrischenden Design ein Tagungsort für die Fokolar-Bewegung in Belgien und Luxemburg, aber auch ansprechend für Veranstaltungen, Seminare, Kongresse anderer Gruppierungen, wie die gerade beginnende Unternehmertagung.

„Wir wollten mit der Architektur das Zusammenspiel von Licht, Raum und Geselligkeit betonen“, erklärt Rob Claes, „und natürlich die Einbindung in die Natur.“

Vor grünem Hinterland aus Wald und Hügeln liegt das Zentrum „Einheit“ sorgfältig eingefügt in das typisch belgische Straßenbild aus Eigenheimen mit Satteldach und gelb gefleckten Ziegelmauern entlang der Nationalstraße 19, parallel zur Autobahn von Maastricht Richtung Brüssel.
Rund um das Bildungszentrum hat die Fokolar-Bewegung auch ihr Siedlungsprojekt begonnen mit dem Namen „Mariapolis Vita“. Kern ist das Waldgelände von zehn Hektar hinter dem Zentrum, „und das soll naturbelassen bleiben“, betont unser Führer. Im Grünen und in den umliegenden Straßen gehören inzwischen rund 25 alte und neue Häuser dazu, sowie noch einmal so viele Standorte in der weiteren Umgebung: Familien, Fokolar-Gemeinschaften, Häuser für Geistliche und ein kleines Frauenkloster, außerdem Betriebe, zwei Bildungshäuser – und noch viel Platz für kreative Projekte. Rund 100 Leute fühlen sich zugehörig – und zuständig. Da öffentliche oder gar kirchliche Gelder in Belgien kaum zu bekommen sind, wurde alles aus Eigenmitteln finanziert.
Eigenmittel? Rob Claes lacht. „Hunderte private Kleinanleger, Spendenaktionen, aber vor allem ein großes Geschenk von oben!“ Der Pionier der Siedlung „Vita“ lebt selbst in einem Haus am Waldrand, in der Fokolar-Gemeinschaft mit fünf weiteren Männern. Unter der Woche kümmert er sich um Schulklassen und Jugendgruppen, macht Exkursionen in den projekteigenen Naturwald und stellt die Produktionstätte „Sol et Vita“ vor, die gesunde Nahrungsergänzungsmittel herstellt und per Internet vertreibt. Er ist Geschäftsführer des ökologischen Bildungszentrums St-Paulus, ursprünglich die Keimzelle der „Mariapiolis Vita“. Kreatives Miteinander bietet auch das Künstleratelier´„Riziki“ mit seinen Kursen.
„Vor zwanzig Jahren waren wir mit einigen Jugendlichen zur Erholung hier im Jugendhaus“, erzählt Rob Claes die spannende Entstehungsgeschichte. Beim
Spielen im Wald treffen sie einen alten Mann mit Stock und einem Bernhardiner. Als sie ihm über ihr Zusammenleben orientiert am Evangelium erzählen, stellt er sich als der Besitzer des Geländes vor und Gründer der Einrichtung. „Prof. Dr. Paul Bouts zeigte sich sehr beeindruckt. Einige Wochen später rief er in Brüssel an und bot uns die Mitarbeit und Nutzung seines Landes an. Auch für das Jugendhaus suchte er geeignete Nachfolger. So kamen wir zusammen und fanden den idealen Ort für die „Mariapolis Vita“.
Neben den Familien gibt es inzwischen eigene Gewerbebetriebe in der „Mariapolis Vita“.

Rob Claes: „Die Siedlung soll ein Aushängeschild werden für den Geist der Geschwisterlichkeit im Alltag.“

Dies war die ursprüngliche Inspiration der Fokolar-Gründerin Chiara Lubich für die heute 35 Mariapolis-Siedlungen weltweit, dies soll auch den neuartigen Gewerbepark prägen, der dem Siedlungsprojekt verbunden ist.
Zwei Firmen teilen sich vorerst einen Pavillon. Neben freien Mietflächen gibt es noch die Büros der Trägergesellschaft „Solidar“. Angesichts ständig steigender Immobilienpreise dieser beliebten Gegend hat „Solidar“ 2004 die ehemalige Lagerhalle gekauft – finanziert durch viele 50-Euro-Einlagen von Jung und Alt aus der Fokolar-Bewegung. Der renovierte Pavillon befindet sich drei Kilometer weiter westlich an der N 19 in Rotselaar.
Dort, im hohen Rondell seines ultramodernen Fitnessstudios „Respiro“ im hinteren Gebäudeteil, empfängt Erik Gijbels die Besuchergruppe. Hell, offen und viel frische Luft: Um einen großen Brunnen mit Pflanzen und Goldfischen sind die Powerfitnessgeräte angeordnet, mit denen er seit einem Jahr guten Erfolg hat. Zum Konzept gehört auch eine physiotherapeutische Praxis. Der Besitzer lebt mit seiner Familie in der Siedlung „Mariapolis Vita“ und will hier etwas von der dortigen Haltung widerspiegeln. Die 1200 Quadratmeter strahlen, nach erheblichen Umbauinvestitionen, Relax-Atmosphäre aus: Familienfreundlichkeit durch eine Spielecke, aber auch Attraktivität für ältere Fitnesskunden sind Erik Gijbels wichtig. Als er vom Umgangsstil mit seinen 15 Mitarbeiten berichtet, horchen die anwesenden Manager der Wirtschaftstagung auf: Ein Unternehmer verzichtet hier auf alle Chefallüren und schult seine Mitarbeiter im Geist der Geschwisterlichkeit!
Im vorderen Teil des Gewerbepavillons begrüßt uns Koen Vanreusel in seiner Firma Batiself NV. Unter dem Namen „Selfmatic“ bietet er sichere Selbstbausätze für Heizung, Sanitär und umweltfreundliche Energienutzung an. Mund- zu Mund-Propaganda sei sein Erfolgsrezept, sagt Koen Vanreusel, basierend auf ausgeprägter Kundennähe und wertschätzender Mitarbeiterbeteiligung. Das wollen die Manager der Wochenend-Tagung genauer wissen, die ihrerseits neue Ideen für die eigene Firmenkultur suchen. Koen Vanreusel stellt sich ihren Fragen und berichtet, wie das Prinzip der Geschwisterlichkeit das Projekt finanziell erst ermöglicht habe, und wie es den Umgang unter den Mitarbeitern, mit den Kunden und Lieferanten bestimmt. „Natürlich profitieren wir davon, dass wir Mitarbeiter aus der ‚Mariapolis Vita’ haben. Das ist wirklich ein ganz ideales Ambiente.“
Winfried Baetz
www.ontmoetingscentrum-eenheid.be

Rob Claes
55, hat als Student marxistische Pamphlete verteilt. Eine gerechtere Gesellschaft will er noch heute. Nach einer Schulung in der christlichen Modellsiedlung Loppiano/Florenz nahm der Informatikstudent einen anderen Weg: „Geschwisterlichkeit ist das Beste für alle, aber wir müssen dafür umlernen.“ In der Lebensgemeinschaft von ehelosen und verheirateten Fokolaren widmet er sich neben seinem Beruf der Verbreitung dieses Ansatzes. So ist er vor Ort engagiert: im Begegnungszentrum, in der Pfarrei, im Kommunalrat oder einfach beim Nachbarschaftsgrillen. Sein Traum: ein Think-Tank mit interessierten Professoren der Uni Löwen über betriebliche Ethik. Als Leiter des ökologischen Bildungshauses mit 11 Mitarbeitern bietet er Naturwaldführungen an. Sein Hobby: Nachtfalter beobachten.
www.soletvita.be und www.focolare.be

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2010)
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