10. April 2010

Hier lässt sich leben!

Von nst3

In der Schweizer Gemeinde Eschenbach wollte es eine Gruppe Frauen nicht nur beim bloßen Meditieren des Evangeliums belassen, sondern etwas für die Armen tun. Sie fragten sich, wo sie diese in ihrer 5500-Seelen-Gemeinde finden konnten.

Kaum betritt Brigitte Bucher das Asylantenheim, wird sie auch schon von allen Seiten herzlich begrüßt. Die 56-Jährige ist für die Bewohner der „Arche“ ganz offensichtlich keine Fremde. Freundschaft spricht aus den Gesten und Worten, vor allem aber aus den strahlenden Gesichtern der 20 Bewohnerinnen und Bewohner des ehemaligen Kindergartens der Gemeinde Eschenbach im Kanton St. Gallen. Das Dorf unweit des oberen Zürichsees zählt knapp 5500 Einwohner und liegt inmitten von Wiesen und Wäldern, Rieden, Weihern und Bächen; zahlreiche Rad- und Wanderwege führen vorbei an natürlichen und baulichen Sehenswürdigkeiten.

„Mit Bus und Bahn wird Zürich in knapp einer Stunde erreicht“, unterstreicht der Gemeindepräsident, Josef Blöchlinger, einen weiteren Vorzug seines Dorfes. Das alles, wie auch der beherzte Slogan „Landluft in Stadtnähe“ lassen nur einen Schluss zu: Hier lässt sich leben! Brigitte Bucher kam vor zehn Jahren zurück in das Dorf. Zusammen mit ihrer Familie – dem Mann Fredy und den vier heranwachsenden Kindern – zog sie in ihr Elternhaus. Schon in Zürich, ihrem früheren Wohnort, hatte sie ihr Leben zusammen mit anderen am „Wort des Lebens“ ausgerichtet. Nach und nach fanden sich auch in Eschenbach andere Frauen, die sich auf dieses Leben mit dem Wort Gottes einlassen wollten. Die sieben Frauen treffen sich regelmäßig, lesen den Kommentar, vertiefen den einen oder anderen Aspekt und erzählen sich, was sie mit diesem Wort „erleben“.

Brigitte Bucher lag dabei immer am Herzen, dass es nicht beim bloßen Meditieren bleibt: „Wo wird unsere Liebe am meisten gebraucht? Wo sind die Ärmsten, die Schwächsten in unserer Gemeinde?“ Diese Fragen stellte sie sich und den anderen immer wieder einmal. So auch vor drei Jahren, nachdem sie zu fünft aus den umliegenden Gemeinden in Stuttgart an einem internationalen Kongress christlicher Bewegungen und Gemeinschaften teilgenommen hatten. „Miteinander für Europa“ – so das Motto der dortigen Begegnung – heißt auch „Miteinander für Eschenbach“, waren sie überzeugt. Anna Grüsser, die erst seit kurzem zur „Wort des Lebens“–Gruppe gestoßen war, dachte sofort an die Flüchtlinge in der „Arche“. Die der Gemeinde zugeteilten Asylbewerber waren im alten Kindergarten mitten in der Schulanlage des Dorfes untergebracht worden. Aber viel mehr wussten die Mitglieder der „Wort des Lebens“-Gruppe nicht über ihre internationalen Mitbewohner im Dorf. So übernahm Brigitte Bucher die Aufgabe, die verantwortliche Person für die Betreuung der Asylsuchenden ausfindig zu machen: Schwester Marianne von der Evangelischen Schwesterngemeinschaft Uznach begleitet die Flüchtlinge als freiwillige Mitarbeiterin und ist als Ansprech- partnerin und Bindeglied zu den Asylsuchenden von der Gemeinde geschätzt.

Der Anruf von Brigitte Bucher hat sie überwältigt: „Seit Jahren beten wir in unserer Schwesterngemein- schaft, dass sich jemand vom Dorf für die Asylsuchenden interessiert. Nun hat Gott unser Gebet erhört“, bekam Frau Bucher da zu hören. Und welche Überraschung als die beiden feststellten, dass auch eine Mitschwester von Schwester Marianne vom Stuttgarter Kongress gehört hatte. Bei ihrem ersten Besuch in der „Arche“ erkannte Brigitte Bucher sofort, wie groß Armut und Not hier waren: Die Menschen benötigten nicht nur materielle Hilfe, sondern vor allem Wärme und ein echtes Zuhause. In einer Zusammenkunft von Anna und Brigitte mit Schwester Marianne reifte dann die Idee, in der „Arche“ eine Weihnachtsfeier vorzubereiten. An jeder Ladentüre im Dorf klebte die Einladung zur „Internationalen Weihnacht in der Arche“. Gemeinsam mit den Bewohnern der „Arche“ bereiteten sie alles vor: Ein Muslim und ein Christ schmückten gemeinsam den Weihnachtsbaum; Kinder und Jugendliche aus der „Arche“ und vom Dorf spielten die Weihnachtsgeschichte. Ein Äthiopier las sie auf Englisch, eine Afrikanerin auf Französisch und zwei Jugendliche auf Deutsch.52 Personen aus dem Dorf waren gekommen und 12 Asylsuchende. Selbst Gemeindepräsident Josef Blöchlinger war da, und nicht mit leeren Händen: Er steckte Schwester Marianne eine Banknote für die Flüchtlinge zu. Mit Spiel, Musik und Liedern entstand eine frohe Atmosphäre. Trotz der sprachlichen Schwierigkeiten entwickelten sich Gespräche und ein reger Austausch.

Die Lebensgeschichten der Asylsuchenden beeindruckten die Dorfbewohner doch sehr. Und die Betroffenheit ließ den Wunsch aufkommen, auch nach diesem Fest in Kontakt zubleiben.

Zwei Frauen aus dem Lebenswort-Kreis gingen deshalb auch hinterher in die „Arche“ und trafen sich mit Schwester Marianne und den Bewohnern. Daraus entwickelte sich eine feste monatliche Zusammen- kunft. Dabei wollen die Frauen vor allem hinhören, wie es geht, wo der Schuh drückt, was fehlt. So lernten sie beispielsweise Habtom besser kennen, einen 25-jährigen Mann aus Eritrea. Nach seinem Militärdienst hatte er nur noch weg gewollt, „nie mehr ein Gewehr tragen und nie mehr gegen Äthiopien kämpfen“. Die Flucht war ihm viel wert. Für die Ausschaffung nach Italien musste er den Schleppern 5000 US-Dollar hinblättern. Eine Rückkehr in seine Heimat und zu seiner Mutter kann er sich nur vorstellen, wenn sein Land nicht mehr im Krieg gegen Äthiopien ist.

In der „Arche“ lebt Habtom gemeinsam mit drei Landsmännern in einem Zimmer. Den großen Auf- enthaltsraum mit einer Wohnwand, verschiedenen Sitzecken, Tischen und einer Küche teilt er mit den 20 Bewohnern und Bewohnerinnen aus Eritrea, Äthiopien, dem Kongo, Somalia, Sri Lanka, Bangladesch, China und Serbien. Mit der monatlichen Unterstützung von 450 Franken muss der junge Mann alle Auslagen für das Essen und die Kleider bestreiten. Hin und wieder gönnt er sich eine Busfahrt. Einmal im Monat kann er sich ein Telefongespräch mit seiner Mutter in Eritrea leisten. „Ich bin zufrieden, weil ich hier in Frieden leben kann“, war Habtom dankbar. „Aber mein Leben besteht nur aus Sitzen und Warten“, beschrieb er gleichzeitig fast melancholisch seine „Arche“- Zeit. Brigitte Bucher und die anderen Frauen verstanden, dass es vielen der Männer in der „Arche“ wie Habtom ging: Sie möchten sich nützlich machen, auch wenn sie dafür keine Bezahlung bekommen. Deshalb setzte sich Schwester Marianne mit dem Gemeindepräsidenten zusammen. Es kam zu einigen Einsätzen beim Gemeindeförster und beim Schneeräumen. Weil Habtom den Deutschkurs besuchte, den die Gemeinde anbietet, kann er sich inzwischen im Dorf recht gut verständigen.

Nach und nach verstärkten sich die Beziehungen, und weil Dorf-und Arche-Bewohner einander immer besser kennenlernten, ergab eines das andere: Warme Jacken und Schuhe fanden den Weg in die Arche.

Eine Afrikanerin konnte den Morgenrock, den eine Frau aus dem Dorf gewonnen hatte, bestens ge- brauchen. Doch dabei blieb es nicht: Inzwischen hat eine junge Kongolesin, die ein Baby bekommt, auch ein Kinderbett. Brigitte Bucher erzählt, von einem „Päckli“, das sie im Briefkasten findet und dass eine Geschäftsfrau ihr 50 Franken zuge- steckt hat. Manches scheint ihnen wie ein Wunder: So beispielsweise, als Anna genau in dem Moment einen spontanen Besuch in der Arche macht, als dort serbische Eltern ratlos und fast verzweifelt sind. Ihr Kind hat hohes Fieber. Anna holt ein Fieberthermometer, bringt Medizin und benachrichtigt den Arzt. „Dich hat Gott geschickt“, seufzt die erleichterte Mutter.Die Hilfsbereitschaft zieht Kreise, und manche aus der Gemeinde haben sich spontan eingebracht: Einige der Flüchtlinge wünschten sich schon länger ein Fahrrad, um sich sportlich zu betätigen und um Busbillette zu sparen. Also nahmen die Betreuerinnen mit zwei Asylsuchenden an der Velobörse im Dorf teil. „Gegen Ende des Vormittages wurden uns zwei Herren- und drei Kindervelos geschenkt“, erzählt Brigitte Bucher strahlend. An der Börse nahm auch ein Velomechaniker teil, der feststellte, dass eines der Velos am Hinterrad einen Defekt auf- wies. Er bot an, das Fahrrad in seine Werkstatt zu nehmen und unentgeltlich zu flicken.

Die Weihnachtsfeier 2009 gestaltete sich bereits viel lockerer. Man kannte sich! Flöten spielten auf, und afrikanische Trommelstäbe wirbelten. Kinder spielten die Herbergssuche, und der tiefen Symbolik konnte sich kaum einer entziehen. Brigitte Bucher erinnert sich: „Jeder sang ‚Stille Nacht, heilige Nacht’ in seiner Sprache. Weihnachten war über alle Grenzen der Religionen, Sprachen und Kulturen hinweg spürbar.“ Die Einladung zur Internationalen Weihnachtsfeier zeigte übrigens das Bild einer Arche mit Häusern als Fracht: Sinnbild der gelebten Gemeinschaft vor Ort.
Alfred Gassmann

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2010)
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