11. Mai 2010

Lebensrecht ist Gebensrecht

Von nst_xy

Immer älter, kranker, dementer – unsere Gesellschaft hat den größten Hilfebedarf seit Menschengedenken. Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Philosophie für Helfer und Bedürftige.

Anna will es gar nicht, doch Anna macht Eindruck! Klein, gekrümmt kommt sie mit ihren Krücken auf die Bühne, ihre Ausstrahlung berührt jeden im Saal. Anna Nguyen, von Kind an gelähmt, kam mit „Terres des Hommes” in den siebziger Jahren aus Vietnam und lebt jetzt allein in Hannover. Allein? Fast klingt banal, was sie erzählt: Wie sie in ihrer Seitenstraße gleich jeden gegrüßt hat, wie Nachbarn ihr oft den Einkauf hoch tragen und das Altpapier runter, wie einer den ganzen Winter lang Schneeberge von ihrem Auto geschippt hat (nur nicht, als sie bei Glatteis losfahren wollte), wie eine Bekannte sie nach dem Sturz mit Armbruch wochenlang bekocht hat, wie die ältere Frau von Gegenüber, der sie mal eine Urlaubskarte geschickt hatte, sie täglich im Krankenhaus anrief und ihre Blumen versorgt hat, und wie die Leute ihren Behindertenparkplatz frei kämpfen. Aber auch: wie sie die Spontanhilfen annehmen kann und sich ihrerseits ganz ohne Erwartungen Zeit nimmt zum Reden, sich interessiert, mitorganisiert, berät – neben ihrem Beruf als Gruppenleiterin und trotz ihrer Behinderung.
Trotz oder durch? Anna macht Eindruck, weil sie etwas zu geben hat: Gerade mit ihrer Behinderung schafft sie Leben in der Straße und setzt auf Beziehung statt Nutzdenken. „Dann kommt auch etwas zurück,” sagt sie und lebt damit etwas, das immer wichtiger wird:

Platz für Begegnung, spontane Nähe im eigenen Lebensraum, gegenseitige Zuständigkeit in der Nachbarschaft. Und es scheint, dass das „umsonst” Geben kein Gefühl der Leere hinterlässt, ganz im Gegenteil.

Tatsächlich, die Zeit drängt. Noch leisten wir uns eine hilfreiche Gesellschaft voller professioneller Helfer: Vorsorge, Erziehung, Beratung, Versorgung, Notdienste, Pflege -an alle Defizite ist gedacht, und wo Anbieter fehlen, helfen „finanzielle Anreize” wie beim Eltern- oder Pflegegeld. Spätestens seit die öffentlichen Mittel an Grenzen stoßen, die Profimöglichkeiten fast ausgereizt sind und die Krise sichtbar jeden erfassen kann, wird klar: Geld kann nur einen Teil des zunehmenden Hilfebedarfs decken. Freie Valenzen im Privatbereich sind gefragt, Übernahme einfacher, solidarischer Hilfen. Dies auch in dem Bewusstsein, wie schnell jeder sich selbst auf der „anderen Seite” wiederfinden kann, unter der wachsenden Zahl bedürftiger Menschen. Das verlangt einen grundsätzlichen Wandel. Denn: Wir sind entfremdet vom konkreten Helfen und haben es verlernt, mit menschlicher Bedürftigkeit umzugehen.
Auf den breiten historischen Graben zwischen Helfern und Bedürftigen hat jetzt Deutschlands kämpferischster Sozialpsychologe und Psychiater Klaus Dörner (76) hingewiesen, auf der Jahrestagung der „Neuen Gesellschaft” 1) im Solinger „Zentrum Frieden”. Unsere Industrie- und Leistungsgesellschaft verbannte die selbstverständliche, entgeltlose Hilfe aus dem Familien-, Nachbarschafts- und Gemeindekreis in zentrale Anstalten. Lange vor der Nazizeit wurden so hunderttausende physisch, psychisch und geistig Dauerbeeinträchtigte in ortsferne, wirtschaftlichere Großeinheiten abgeschoben. Die daheim frei werdende Kraft und Zeit sollte dem Fortschritt dienen.
Bis zur Einstufung solcher Menschen als „Untermenschen” mit minderem Lebensrecht war es nicht mehr weit. Erst Anfang der achtziger Jahre begann eine Wende. Ein neues, solidarisches Verständnis von Menschlichkeit öffnete die geschlossenen Anstalten zugunsten einer gemeindenahen Fürsorge. Zunächst in Italien, dann – auch durch Dörner selbst angestoßen im deutschsprachigen Raum – wurden etwa psychisch Langzeitkranke zunehmend in Wohngruppen integriert, verbunden mit einer familiennahen Therapie. Bürgernahe inner- und außerfamiliäre Angebote für Bedürftige nahmen bis heute stark zu.
So zählt die Hospizbewegung in Deutschland über achtzigtausend freiwillige Helfer. Allein im Landkreis Gütersloh hat die ehemalige Dörner-Mitarbeiterin und Psychologin Waltraut Franke, eine Akteurin der „Neuen Gesellschaft”, in wenigen Jahren bewirkt, das zwölf Hospizgruppen ins Leben gerufen wurden.

Den Dritten Sozialraum nennt das Dörner, der die Entstehung von nachbarschaftlich-gemeindenaher Zuständigkeit nach wie vor im Visier hat.

Wenn wenige Alte gern ihre Wohnstätte verlassen, und pflegende Angehörige überfordert sind, müssen neue Formen wohnraumnaher, familienübergreifender Hilfe und Lebensformen gefunden werden. Die Chance liegt nach Dörner im existenziellen Grundbedürfnis jedes Menschen, einen Teil seiner freien Zeit in solche Dienste zu investieren: die dritte Zeit, nach Arbeit und berechtigter Freizeit, eine individuell unterschiedlich gewichtete Helferzeit. Denn egal, ob wir privat oder beruflich helfen, helfen macht froh, oft stolz, manchmal auch reich. Nicht nur wer professionell hilft, ist tendenziell auf der Gewinnerseite: die Ärzte und Therapeuten, Lehrer und Berater, Pflegeberufe genau wie das noch unterbelichtete Privatengagement.
Welchen Wert die Geberseite in uns hat, wird am besten deutlich, wenn wir auf der anderen Seite landen, bei denen, die Hilfe benötigen. Was haben wir als Bedürftige dann noch zu melden? Was hat uns ein Obdachloser zu bieten, ein behindertes Kind zu sagen, ein Hartz-IV-Empfänger zu geben, was bringt uns ein bettlägeriger Mensch? Wo findet sich dort das von Dörner geforderte Grundrecht jedes Menschen auf Gebendürfen, auf das Glück, trotz Bedürftigkeit etwas mit-zu-teilen zu haben, dazu zu gehören und in Beziehung zu sein?
Ein Perspektivwechsel kann das verdeutlichen, wie ihn die Tagung in Solingen allen Helfern mit zahlreichen Beispielen nahe legte: Etwa die Perspektive von Anna (55), von Alfonso (11) oder von Otto (80). Anna: Wenn sie aus dem Auto steigt, hat sie nicht selten einen Kasten Mineralwasser dabei für ihre Nachbarin ohne Auto -, sie, die seit dem ersten Lebensjahr gehbehindert ist! – Oder Alfonso: Als der Elfjährige einmal auf der Bühne mittanzen durfte, beim Schulprojekt „Stark ohne Gewalt”, hat er zum ersten Mal Applaus erlebt und die Freude, etwas geben zu können, statt ewig zu konsumieren -, er, der wie viele Mitschüler als nicht motivierbar galt! – Oder Otto: Nachdem er in der Psychiatrie regelmäßig von seinem Freund Wilhelm besucht wurde, und beim miteinander Singen das Klavierspiel wieder entdeckten, konnte er einmal die zweite Stimme zu „Wach auf mein’s Herzens Schöne” komponieren, für eine anstehende Hochzeitsfeier -, er, der unter einer schweren Depression litt!
Das Recht etwas beizusteuern, als Person beteiligt zu sein, dieses Grundrecht muss jedem Menschen unbesehen seines Gesamtzustandes zugestanden werden, zumal dem, der es sich nicht mehr einfach nehmen kann. Selbst ein Schwerkranker muss noch ein vollwertiges Danke flüstern dürfen, in dem vielleicht alles drin steckt, was er sonst geben würde. So bleibt er Mitspieler einer Beziehung auf emotionaler Augenhöhe.
Mit diesem Beziehungsansatz müssen sich Profihelfer wie jeder privat Betroffene auseinandersetzen. Denn Bedürftigkeit wird einen merklich größeren Teil unseres Lebens ausmachen, als uns die Gläubigen eines leidfreien Fortschritts immer weismachen wollten. Bedürftige Helfer und gebende Bedürftige – wenn wir heute diese Gegenseitigkeit nicht lernen, kommen wir auch morgen in den umgekehrten Rollen nicht klar, dann zieren wir uns, wenn wir Zeit opfern sollen, dann ist es uns peinlich, uns helfen zu lassen. In beiden Fällen bringen wir uns selbst und den anderen um wertvolle Momente.
Gegen die Mentalität des „nichts ist umsonst” setzt Dörner ein neues Verständnis von Gotteslohn und zitiert die Philosophen Levinas und Hemmerle: „Sooft ich einem Menschenantlitz begegne, begegne ich dem unbedingten Anspruch Gottes” und „Der Himmel ist zwischen uns”. Das sieht Anna Nguyen genauso und erklärt, woher sie ihre unglaubliche Kontaktenergie stets neu bezieht: „Morgens treffe ich zuallererst Gott. Im Gebet denke ich dann, wen ich alles treffen werde, auf der Straße, bei der Arbeit, in der Freizeit und überlege: Wie liebe ich den, mit dem es gestern vielleicht schwierig war …” So stellt sie die zerbrochene Einheit zwischen Helfern und Bedürftigen Tag für Tag ein Stück wieder her.
Winfried Baetz

1) Als „Neue Gesellschaft” bezeichnet sich die gesellschaftspolitisch aktive Seite der Fokolar-Bewegung.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2010)
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