13. Januar 2011

Holperfahrt in die Freiheit

Von nst_xy

Der Südsudan am Scheideweg: Nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs soll die Bevölkerung am 9. Januar über ihre Unabhängigkeit abstimmen. Wird das Referendum gelingen? Und was wird es bringen? Neue Stadt-Mitarbeiter Ernst Ulz hat die Krisenregion besucht.

Afrikanische Massage” hat der sudanesische Humor dieses Gerüttel und Geschüttel getauft, das einem durch Mark und Bein geht, während der Landcruiser zwischen Schlaglöchern und Pfützen, Rindern und Ziegen Slalom fährt. Für Südsudanesen ist das normal. Asphalt gibt es in dieser Region von der Größe Frankreichs so gut wie keinen.

„Wenn wir erst einmal unabhängig werden, dann leben wir in zehn Jahren wie in Uganda”, träumt Santino Mayiek, der junge Lehrer auf der Rückbank. Währenddessen ziehen am Fenster runde, schilfgedeckte Lehmhütten, schlanke Frauen mit Tongefäßen auf dem Kopf und Rinderherden vorbei. Bloß: Uganda ist eines der 30 ärmsten Länder des Globus.

Am 9. Januar 2011 könnte sich Santinos Traum zu erfüllen beginnen – oder auch nicht. Dann könnte sich scheiden, was europäische Kolonialpolitik und arabischer Imperialismus vermählt haben: Die schwarzen Stämme im Süden des Sudan von den arabisierten im Norden; Christen und Angehörige traditioneller Religionen von Muslimen. Etwa drei Millionen stimmberechtigte Südsudanesen werden entscheiden, ob sie einen eigenen Staat wollen.

Vermutlich! Denn ob das Referendum am 9. Januar stattfindet, war bis Redaktionsschluss ungewiss. Und auch, ob es überhaupt stattfindet. Die Wählereinschreibung hat erst sieben Wochen davor begonnen; Anfang Dezember waren noch keine Stimmzettel gedruckt; in einigen Grenzgebieten war noch nicht klar, wo genau die Grenze verläuft und wer überhaupt wählen darf.

„Organisatorische Probleme”, entschuldigt sich die zuständige Wahlkommission und bittet um Verschiebung. Das klingt plausibel, denn tatsächlich ist hier jeder Ablauf schwieriger. Kaum jemand hat Dokumente. Viele Dörfer sind per Auto monatelang unerreichbar. Selbst Städte wie Rumbek, das mehr Einwohner hat als Graz, kennen keine Post, öffentliche Stromversorgung, Wasserleitung, keinen Asphalt. Doch in Wahrheit will der Norden – will heißen: die Zentralregierung in Khartoum – die Abstimmung nicht. Denn er wird den Süden verlieren, sollte das Referendum wirklich frei und fair sein. Darin sind sich Beobachter einig.

„Die Völker des Südens sind jahrhundertelang unterdrückt worden. Jetzt können sie endlich das Steuer übernehmen”, glaubt Cesare Maz- zolari, katholischer Bischof von Rumbek. Auf der Fahrt gen Osten nach Yirol zeigt er öfters ins Grüne zwischen Hüttendörfer und Hirsefelder und erzählt von Gefechten.

Als der Sudan 1956 unabhängig wurde, wurden die Bewohner im Süden nicht gefragt, ob sie zu diesem Konglomerat von über vierhundert verschiedenen Völkern gehören wollen. Engländer wie Araber hielten das für unnötig. „Die Araber fühlen sich den Schwarzen überlegen”, beobachtet Mazzo-lari. Im 19. Jahrhundert hatte der Südsudan hauptsächlich als Reservoir für Sklaven gedient.

Doch auch die Südler sind stolz. Viele sind Halbnomaden, Hirten und Krieger – vor allem die größte Volksgruppe, die Dinka. Sie gehören zu den größten und dunkelhäutigsten Menschen der Welt.

Sie leben meistens inmitten ihrer Herden in „Cattle Camps” (Rinderlagern). Sie berechnen ihren Reichtum in Rindern, bezahlen ihren Brautpreis mit Vieh, opfern Göttern und Ehrengästen Stiere, sie heißen wie ihre Rinder, imitieren ihre Ochsen im Tanz. Sie essen kein Rindfleisch, aber riskieren ihr Leben für ihre Tiere. Nur wer Rinder hat, ist ein verwirklichter Mensch. Handwerk, Schule, Geld sind nebensächlich.

So jemand lässt sich nicht bevormunden: Bereits 1955, noch vor den Unabhängigkeitfeiern, griffen die Südstämme zu den Waffen. Sie wollten raus aus der Zwangsehe oder wenigstens Selbstverwaltung in einem föderalen Sudan. Es folgte ein halbes Jahrhundert Krieg. Nur zwischen 1973 und 1983 war etwas Ruhe. Waffen bekam der Süden von Israel sowie anderen Feinden der Araber und Freunden des Erdöls, das im Süden schlummerte.

Den zweiten Sezessionskrieg (1983 bis 2005) führte die Sudanesische Volksbefreiungsarmee SPLA an. Er kostete vermutlich zwei Millionen Menschen das Leben. Etwa vier Millionen flüchteten ins Ausland oder in den Nordsudan. Andere verkrochen sich im Busch. Sie fürchteten die Regierungstruppen, aber auch ihre eigenen Kämpfer. Diese überfielen die Dörfer auf der Suche nach Proviant, neuen Kindersoldaten und Sexsklavinnen. Angeblich kamen dabei mehr Südsudanesen durch Südsudanesen um als durch die Regierungstruppen.

Stück für Stück „befreite” – wie die Leute sagen – die SPLA ihr Land. Die Zentralregierung unter Omar Al Bashir musste 2005 einem Friedensvertrag zustimmen: Der Süden bekam mehr Autonomie. Der Norden bekam die Hälfte der Erdöleinkommen zugestanden, obwohl 80 Prozent des Schwarzen Goldes im Süden liegen. Und: Es wurde die nun anstehende Volksabstimmung vereinbart.

Aber der Norden kann den Süden nicht einfach ziehen lassen, denn er hat ein mehrfaches Interesse daran: wirtschaftlich, wegen des Öls, von dem sein Wohlstand abhängt; religiös, nämlich die Islamisierung des Südens; politisch, denn die arabische Welt würde es nicht gutheißen, wenn die „größte arabische Nation” der Welt zerbröckelte.

Aber Präsident Bashir hat schlechte Karten. Die nicht-arabische Welt steht hinter dem Süden – allen voran die USA.

Gegen Bashir selbst hat der Internationale Gerichtshof Haftbefehl erlassen wegen der Massaker im westsudanesischen Darfur. So versucht er, den Süden von innen her zu zersetzen: Teile und herrsche! Versteckt in Lebensmitteltransporten werden Waffen in den Süden geschleust, und politisch ahnungslose Hirtenjungs werden mit Waffengeschenken zum Unruhestiften motiviert.

Offiziell will keine der Streitparteien zurück zu den Waffen: weder Bashir noch Salva Kiir Mayardit, ein ehemaliger SPLA-Kämpfer, der seit 2005 den Süden von Dschuba aus regiert. Beide beschwichtigen, dass sie das Volksvotum akzeptieren werden. Gleichzeitig beschuldigen sie einander, Wähler der Gegenseite einzuschüchtern oder zu kaufen und neue Truppen an der Grenze aufzubauen. Ende November fielen Nord-Bomben im Süden. Kiir rasselt mit dem Säbel: „Entweder das Referendum findet pünktlich statt, oder wir erklären uns einseitig unabhängig.” Andererseits sind mit einer Unabhängigkeit längst nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt. So mancher befürchtet, es könnte danach noch schlimmer werden.

Zwischen Rumbek und Tonj säumen Krieger mit Speeren die Straße. Sie wollen sich eine Herde zurückerobern, die ihnen ein Nachbarclan geklaut hat. Wahrscheinlich wird es Tote geben. Nichts Ungewöhnliches. Jemand sagt: „Der Süden gegen den Norden. Mein Stamm gegen deinen Stamm. Mein Clan gegen deinen Clan. Ich gegen meinen Bruder.”

Werden solche Menschen einen Staat von zweihundert Volksgruppen regieren können? Sie sind trainiert auf Buschkrieg, nicht auf Diplomatie. Die Südregierung hat nach fünf Jahren wenig vorzuweisen. Trotz beachtlicher Ölein- nahmen blieb der Entwicklungs- schub aus. Nur in Dschuba fahren dicke Autos; Übernachtungen und Nahrungsmittel sind astronomisch teuer. Viel Geld verschwindet in den privaten Taschen der neuen Mächtigen.

In der Zwischenzeit unternehmen die Kirchen alles Erdenkliche, um die Menschen zur friedlichen Teilnahme an der Volksabstimmung zu motivieren. Bischof Mazzolari ist denn auch zuversichtlich, dass das Referendum stattfindet, wenn auch nicht pünktlich. „Ich kenne diese Menschen. Wenn sie etwas wollen, erreichen sie es auch. Immer wenn ich meinte, dass sie etwas nie hinkriegen, haben sie mich eines Besseren belehrt.” Und: Afrikaner können mit harten schwierigen Umständen kreativ umgehen, seien es nun Schlaglöcher oder Unwägbarkeiten der großen Politik.

Ernst Ulz

Der Sudan
ist mit 2,5 Millionen Quadratkilometern flächenmäßig der größte Staat Afrikas.
Mehr als die Hälfte der etwa 40 Millionen Einwohner sind Schwarzafrikaner – unter anderen Dinka, Nuer und nubische Völker, rund ein Drittel sind arabischer Abstammung. 70 Prozent sind sunnitische Muslime, die vor allem im nördlichen Teil leben, 20 Prozent gehören afrikanischen Religionen an, 10 Prozent sind Christen; der Islam ist Staatsreligion. Die Hälfte der Sudanesen ist jünger als 15 Jahre.
2005 wurde der Südsudan eine autonome Region mit rund 9 Millionen Einwohnern in zehn Bundesstaaten. Trotz ihrer reichen Erdölvorkommen gilt die Region als eine der ärmsten der Welt. Ein weiteres Krisengebiet ist die Region Darfur im Westen des Landes.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2011)
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