13. März 2011

Schwarzbrot statt Milchsuppe

Von nst_xy

Allein sein mit Gott: Eremiten werden leicht als Aussteiger, menschenscheue Einzelgänger oder weltfremde Sonderlinge angesehen. Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass das Einsiedlertum vor allem in Krisenzeiten aufblühte. Was bringt Menschen heute dazu, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen?

In Deutschland gibt es 80 bis 90 Eremitinnen und Eremiten, genau weiß man das nicht. In Italien und Frankreich sollen es um die 300 sein. Etwa zwei Drittel sind Frauen. Eine davon ist Schwester Benedicta in der Nähe von Bonn. Sie wirkt bodenständig und gar nicht abgehoben. In ihrem Personalausweis ist Benedicta als Künstlername vermerkt. Ende 2006 bezog sie ihre Klause.

Die etwas zurückgebaute Einsiedelei schmiegt sich an die barocke Michaelskapelle auf dem Burgfriedhof an, in der im Sommer oft Hochzeiten stattfinden; die Burg darüber ist eine noble Adresse für Festlichkeiten in alten Gemäuern mit modernstem Ambiente und Blick auf den Rhein. Seit dem 17. Jahrhundert war die Klause hundertfünfzig Jahre lang ständig bewohnt, bis fast gleichzeitig mit der Säkularisation 1803 der letzte Eremit hier starb. Nach gut 200 Jahren „Zweckentfremdung” wurde sie vom Erzbistum Köln renoviert, hat fließendes Wasser, Bad, elektrischen Strom, Telefon.

Schwester Benedicta ist eine der Initiatorinnen eines Treffens von 33 Eremitinnen und Eremiten aus sechs europäischen Ländern kürzlich in der Erzdiözese Freiburg. Sie kamen aus Österreich, Belgien, Niederlande, Schweiz, Tschechien und Deutschland. Erzbischof Robert Zollitsch begrüßte und unterstützte die Begegnung.

Das Gruppenbild zeigt eine nach Alter und Outfit buntscheckige Vielfalt: Einsiedler im Habit und solche in Jeans, in Straßenkleidung oder mit fast orthodoxem Einschlag. Die Teilnehmer befinden sich an ganz verschiedenen Punkten ihres spirituellen Weges. Unter den Männern sind einige Priester; einer war ehemals evangelischer Pfarrer. In Tschechien leben zwei Eremitinnen benachbart, treffen sich täglich zu einer Mahlzeit. Im Einverständnis mit ihrem Mann lebt auch eine Mutter von drei Kindern Aspekte des Eremitenwegs. Eine alte Weisheit sagt: „Was gleicht am wenigsten einem Eremiten? Ein anderer Eremit.” Das war die ganze Kirchengeschichte hindurch so.

Ist ein Eremitentreffen nicht ein Widerspruch in sich, wenn es doch um die Einsamkeit mit Gott geht? „Nein”, meint Schwester Bendicta. Begegnungen zwischen Einsiedlern hat es immer wieder gegeben. „Wir sind ja alle auf dem gleichen Weg”, erzählt die Eremitin. „Vom ersten Moment an empfand ich bei dem Treffen eine Atmosphäre von tiefem Vertrauen und gegenseitigem Respekt.” Die große Offenheit hat ihr gezeigt, dass viele eine schmerzvolle Geschichte hinter sich haben. „Jetzt tragen wir uns gegenseitig im Gebet.” Während unseres Gesprächs läutet das Telefon: Eine Einsiedlerin gibt weiter, dass sich zu dieser Stunde ein Eremit einer schwierigen Operation unterzieht.

Was bedeutet „Leben in der Einsamkeit”? Worin unterscheidet es sich vom einfachen Single-Dasein? Das Kirchenrecht nennt als Merkmale das Fremdsein in der Welt, was auch Armut als Verzicht auf Sicherheit beinhaltet; die Vorrangigkeit des Gebets; das Schweigen, das aus der Bußgesinnung kommt, ist Umkehr, Sinneswandel; die Demut, ohne die das Leben in Verborgenheit und der Verzicht auf jede soziale Rolle nicht denkbar wären.

All das bedeutet für Schwester Bendicta nicht Rückzug von einer „verweltlichten” Kirche, sozusagen um „einen eigenen Laden aufzumachen”, sondern Teil, Aspekt von ihr, Dienst in ihr und für sie. Gabriel Bunge, Theologe und drei Jahrzehnte lang Einsiedler im Tessin, drückt es so aus: „Wenn ein Eremit die Einheit mit Gott und mit allen Menschen sucht, kann er sich unmöglich von der Kirche, die das Sakrament dieser Einheit ist, verabschieden”.

Der Eremit orientiert sich an Evagrius Pontikus, einem großen Psychologen der Wüste aus dem vierten Jahrhundert: Wer in die Einsamkeit geht, nimmt sich selbst mit, die Einsamkeit wird zum Vorschein bringen, was im Menschen steckt.

Der Eremit weiß, die eigentliche Härte seines Lebensstils besteht nicht primär in äußeren Dingen, sondern in einer inneren Umformung. Dem Mönch im Kloster machen schwierige Mitbrüder zu schaffen; überwindet er diese Anfechtung nicht durch wahre Liebe, verfestigen sich in ihm Abneigung und Vorurteile. Der Eremit schließlich wird nicht durch gegenwärtige Dinge oder Menschen angegriffen, sondern durch Erinnerungen, Wünsche, Gedanken, denen er in der Einsamkeit schutzlos ausgesetzt sein kann.

Fernsehen ist tabu, Printmedien gehören nur ganz gezielt in dieses Leben. Also keine religiöse Kuschelecke für fromme Singles, meint Schwester Benedicta, sondern „Schwarzbrot statt Milchsuppe, für starke Typen”.

Ihr Tagesablauf wird strukturiert durch das Gebet. Für viele Eremiten ist dabei das Jesus-Gebet 1) prägend. Die meisten folgen dem Stundengebet. Für Schwester Benedicta spannt sich der Bogen von der Matutin, dem Morgengebet um 6, bis zur Komplet um 20.45 Uhr.

Und wovon leben Eremiten? Manche sind Übersetzer, versehen Küsterdienste, machen Schreibarbeiten für Pfarrbüros. In der Diözese Osnabrück arbeitet MariaAnna Leenen als Journalistin für kirchliche Zeitungen und Zeitschriften, schreibt Kinderkrimis und kümmert sich dazu um ihre drei Ziegen. Bei Schwester Benedicta stehen von ihr verzierte und eingepackte Kerzen für eine Firma auf dem Tisch. Dieses Jahr kann die frühere Intensivkrankenschwester Rente beantragen; dann wird sie die „Kerzenproduktion” reduzieren und mehr Zeit für Menschen haben, die sie um ein Gespräch bitten. Die beiden Stunden am Samstagnachmittag, die an der Eingangstür angegeben sind, reichen nicht mehr.

Oft geht es um persönliche Probleme, immer wieder um Sinnsuche. „Inzwischen habe ich den Mut, die Beichte anzusprechen”, erzählt sie und erlebt: „Häufig ist das der Durchbruch.” Außerdem versorgt sie die Kapelle nebenan.

Wie wird man Eremit? Da gibt es Damaskus-Erlebnisse mit einer abrupten Wende im „normalen” Lebensweg, doch häufiger sind allmähliche Entwicklungen, wie eine Mitinitiatorin des Eremitentreffens aus Österreich sie beschreibt: „Es war für mich ganz klar ein Anruf Gottes, der mich komplett überraschte und völlig aus der geplanten Bahn warf.” Mit 17 verspürte sie den Ruf zum Ordensleben, aber erst mit 23 fand sie nach verschiedenen Ordenswechseln ihren Platz: als Eremitin im klassischen Sinn.

Im alten Kirchenrecht ist das eremitische Leben nicht erwähnt. Nach dem neuen Kirchenrecht erhielt die Österreicherin 1992 von ihrem Ortsbischof die Erlaubnis, mit dieser Lebensform für ein Jahr zur Probe zu beginnen. Weiterhin gleichzeitig ihrer früheren Gemeinschaft anzugehören war nicht möglich.

Bei aller Hochschätzung wurde das eremitische Leben bereits in der frühen Kirche mit einer gewissen Reserviertheit betrachtet. Der heilige Benedikt wollte eine Zeit der Erprobung vor der Entlassung in die Einsamkeit; verschiedene Synoden erließen Bestimmungen über die Voraussetzungen.

Benedicta gehört zum Orden der „Servitinnen von Galeazza”. Beim letzten Generalkapitel bestätigte die Gemeinschaft ihren Weg: „Das ist wichtig für mich! So fühle ich mich gesandt.” Einige Schwestern in anderen Orden, die einen solchen Ruf in sich spürten, gingen unter dem Druck, dem sie ausgesetzt waren, in die Gemeinschaft zurück oder traten aus. Besonders die kontemplativen Frauenorden tun sich mit der Anerkennung schwer, ihre Mitglieder als Einsiedlerinnen ziehen zu lassen.

Andere Einsiedler binden sich als ,Diözesaneremiten’ mit den drei evangelischen Räten 2) an einen Diözesanbischof als ihrem Oberen. Fast jeder und jede bringt entsprechend der spezifischen Prägung ein bestimmtes geistliches Anliegen mit. Für die franziskanisch Geprägten ist es meist die Bewahrung der Schöpfung, für Schwester Benedicta die Einheit von Ost und West. Sie erzählt von ihrer frühen Liebe zur Ostkirche: „Ich möchte mit beiden Lungenflügeln atmen, Eremitin der ungeteilten Kirche sein.” Ihre geistliche Nahrung sind vor allem die Texte der Wüstenväter und -mütter. Zu den zahlreichen Ikonen in ihrer winzigen Kapelle sagt sie: „Hier fühle ich mich wie im Kreis mit den schon im Himmel Angekommenen.” Dabei zeigt sie auch auf das kleine Foto der 2010 verstorbenen Mitschwester. „Dieser Weg war schon in dir, als du im Noviziat warst”, hatte diese ihr noch in ihren letzten Zeiten bestätigt. Ob sie sich manchmal allein fühle? Ein entschiedenes Nein!

In Deutschland ist seit Mitte des letzten Jahrhunderts das Bewusstsein für diese frühkirchliche Lebensform wieder spürbar gewachsen. Maria Anna Leenen sieht darin „eine Reaktion auch auf Defizite in der gegenwärtigen Spiritualität”. Das zeige die Notwendigkeit, Einsamkeit neu als eine „Schule der Gottfähigkeit sehen zu lernen.”

1976 sprach der heutige Papst als Joseph Ratzinger von bevorstehenden schweren Zeiten für die Kirche; aber aus den Erschütterungen werde eine verinnerlichte und vereinfachte Kirche hervorgehen, die von neuem blühen und Menschen Heimat geben werde. 3) Die Eremiten verstehen sich auf diesem Weg als Ansporn und Stachel im Fleisch.
Dietlinde Assmus

1) „Jesus Christus, erbarme dich meiner.“
2) Armut, Ehelosigkeit/Keuschheit, Gehorsam.
3) Glaube und Zukunft, 1976, S. 122-125

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2011)
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