17. Mai 2011

Das war mir zu wenig!

Von nst_xy

Auf der Suche nach immer Neuem legte die Schweizerin Helena Fässler weite Wege zurück, ließ eine ganze Menge hinter sich und fand dabei eine große Freiheit.

Unter mir die Wüste, endlos. Alles, was hinter mir lag, wurde immer kleiner: die Schweiz, meine Familie, die Beziehung zu meinem Freund, der Beruf. Und vor mir die Unendlichkeit – etwas Großes!” Obwohl es schon elf Jahre her ist, hat Helena Fässler, – oder: Marilen, wie sie von Freunden oft genannt wird – das noch ganz klar vor Augen: Im Flugzeug war die damals 26-Jährige unterwegs von der Schweiz nach Uganda.
Im Grunde war die auf den ersten Blick zurückhaltend wirkende junge Frau schon immer abenteuerlustig: „Als kleines Mädchen musste die Mutter mich immer bei den Nachbarn suchen, Angst vor Fremdem hatte ich nie!” Aufgewachsen zusammen mit zwei Brüdern in der deutschsprachigen Schweiz, die Mutter Bosnierin, der Vater Schweizer, hatte es sie schon als Jugendliche für drei Monate nach England gezogen. Dann folgte die Ausbildung zur Krankenschwester, die erste Arbeitsstelle und im Sommer 2000 war sie beim Weltjugendtag in Rom. Dort lud Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, die jungen Leute ein, sich mit Aktionen für Afrika einzusetzen oder ihre Talente in einem afrikanischen Land einzubringen. „So etwas wollte ich schon immer mal machen!” Innerhalb kurzer Zeit ließ sie alles zurück, was ihr bis dahin wichtig war, und war auf dem Weg nach Uganda.
In Kampala angekommen, erwartete sie eine völlig andere Welt: „Die Mädchen, mit denen ich zusammen wohnte, hatten noch nie mit einer Weißen zusammen gelebt. Wir sprachen alle Englisch, trotzdem schienen wir uns nicht zu verstehen. Ich wusste nicht, wie man auf offenem Feuer kocht oder die Wäsche von Hand wäscht.” Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit in einem Projekt für Straßenkinder rief man ihr auf den Straßen zu:

„Musungu, musungu!” – „Weiße, Weiße!” – und streckte ihr die offenen Hände entgegen. „Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Wie konnte ich da eine Beziehung aufbauen und die bestehenden Vorurteile überwinden?”

Es war nicht einfach! Und als die Schweizerin überlegte, wieder abzureisen, kam ihr der Gedanke, warum sie sich denn auf den Weg gemacht hatte. „Sicher, es war die Lust auf das Neue, aber auch der Wunsch, Gott diese Zeit zu geben!” Schon als Jugendliche hatte Helena Fässler erlebt, wie die gegenseitige Liebe alles verändern konnte. „Das einzig Wichtige war: zu lieben, ganz einfach, in den ganz alltäglichen Dingen!” Der Gedanke war wie ein Licht; eine Einladung, die eigenen Kategorien ganz zur Seite zu stellen. Nach und nach entdeckte sie so die Schönheit der Kultur und „die Fröhlichkeit dieses Volkes”. In dieser „Zeit der Fülle” wurde auch eine Frage wieder laut, die sie aus früheren Jahren kannte: „Gott, was willst du von mir?” Aber dieses Mal gab es eine klare Antwort: „Dich! Ich will dich ganz!” Helena Fässler wusste, wenn sie das laut aussprach, „dann war es gelaufen”. Dennoch war ihr klar: Daran ist nicht mehr zu rütteln! Jetzt ging es um „Alles oder nichts” – und sie wusste, „,nichts’ war mir zu wenig!”
Trotzdem dauerte es einige Wochen, bis sie den Mut hatte, sich diesem inneren Ruf zu stellen. Sie war zu Besuch in Kenia und lebte dort mit afrikanischen Frauen aus verschiedenen Ländern zusammen: „Das Einzige, was uns verband, war der Wunsch, die gegenseitige Liebe unter uns zu verwirklichen. Ich hatte mich sofort so zuhause gefühlt, dass ich wusste, hier kann ich nicht weg!”
Die Freude über die Entscheidung erhielt dann aber einen Dämpfer: „Meine Familie konnte das nur schwer nachvollziehen. Sie litten sehr!” Schweren Herzens beendete sie auch die Beziehung zu ihrem Freund. „Ich hatte so vielen wehgetan mit meiner Entscheidung”, erzählt sie. „Trotzdem wusste ich, dass es richtig war!”
Erst als die Eltern sie in Kenia besuchten und erlebten, wie froh sie war, akzeptierten sie die Entscheidung ihrer Tochter, auch wenn sie sie nicht ganz verstehen konnten. Das galt auch, als Marilen fünf Jahre später Richtung Asien aufbrach. Dieses Mal hieß das Ziel Taiwan; nach einem Zwischenstopp von sechs Wochen in Hongkong, einer „verrückten Stadt”, landete sie wieder „in einer völlig neuen Welt”. In einer Fokolar-Ge- meinschaft lebte sie zusammen mit zwei Koreanerinnen und einer Chinesin aus Hongkong. Obwohl sie nun schon einige fremde Kulturen erlebt hatte, war hier alles neu: wie man sich verhält, was man sagte, wie man bestimmte Situationen deutete, bis hin „zum Schweigen, bei dem du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst!”
Auch wenn sie im Fokolar oft Italienisch sprachen, waren Sprache und Kultur zunächst wie eine unüberwindbare Barriere. Oft kamen Gäste, aber weil nicht immer jemand übersetzen konnte, konzentrierte Marilen sich darauf, zuzuhören, zu beobachten, zu sehen, wie die Menschen sich bewegten und wie sie lebten. Keine einfache Zeit! „Aber”, so erzählt die junge Frau im Rückblick, „dadurch habe ich mich neu auf Gott ausgerichtet: Für ihn hatte ich mich entschieden, wegen ihm war ich hier!” So habe ihr die Situation geholfen, sich neu zu verankern „in Jesus, der am Kreuz ganz allein war, ganz unverstanden, und der dort nichts anderes hatte als seine Beziehung zum Vater. Und dann hat er selbst die nicht mehr gespürt.” Darin fand sie sich wieder.

Fast mit Erstaunen stellte sie dann fest, wie nach und nach die Liebe zum Land und zur Kultur wuchs. Vor allem die Kinder waren ihr dabei eine große Hilfe: „Mit Herzlichkeit haben sie mich einfach korrigiert, wenn ich etwas Falsches gesagt hatte.”

Nach fünf Jahren, nachdem sie sogar eine Arbeit als Krankenschwester in einer internationalen Schule gefunden hatte und es auch mit dem Chinesisch „einigermaßen ging”, spürte Helena Fässler innerlich wieder, dass es notwendig war, sich nur auf Gott allein zu verlassen, „nicht auf die Dinge, die Schönheiten, die Sprache”. So war sie dann auch gar nicht so sehr überrascht, als man sie fragte, ob sie bereit wäre, in ein anderes Land zu gehen.
Seit Oktober 2010 lebt sie nun in Deutschland. „Es war ein Abschneiden! Alles, was – auch unter Schwierigkeiten – gewachsen war, war ein Teil von mir geworden; die Kultur, die Menschen, diese Feinheit!” Deshalb überkommt sie jetzt auch manchmal noch ein wenig Heimweh. Und obwohl man meinen könnte, dass Schweizer und Deutsche vergleichsweise vieles verbindet, sagt Helena Fässler lächelnd, aber bestimmt: „Nein, da gibt es schon Unterschiede!” Die Art, wie man sich ausdrückt und mit Problemen umgeht beispielsweise – klarer, härter, unverblümter! „Da weiß man dann zwar, worum es geht”, erklärt sie, „darf sich aber auch nicht persönlich angegriffen fühlen!”
Für Marilen ist das eine neue Herausforderung, die Menschen, mit denen sie nun zu tun hat, ganz und bis auf den Grund zu verstehen und dabei das Neue und den Reichtum zu entdecken.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2011)
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