Gildas’ Traum
Deutschland war nie das Wunschziel von Gildas Dagbeto: Doch inzwischen hält es der Afrikaner über zwölf Jahre hier aus.
Oktober 1997, Berlin Tegel. Gildas Dagbeto aus Benin betrat zum ersten Mal europäischen Boden. Tausend fremde Eindrücke strömten auf ihn ein: eine Rolltreppe, die herbstliche Kälte, überall rauchende Leute, Pärchen, die sich vor aller Augen küssen. In
Magdeburg, wo man ihn einquartierte, standen noch Ruinen. Während ihm in Berlin alles übermäßig ordentlich schien, sollte er hier zwischen hässlichen Trümmern Deutsch lernen.
„Guten Tag!” Der erste Mann auf der Straße, den er ansprach, sah ihn an und fragte: „Warum?” – “Das fand ich krass”, erinnert sich Gildas.
Die Deutschlehrerin beruhigte ihn, dass der Mann nicht böse auf ihn war. Aber es sei halt nicht üblich, jeden gleich zu grüßen. „Ich hab gemerkt: Wenn die Leute ein leuchtendes Gesicht haben, kann ich Hallo sagen und es kommt auch was zurück. Guckt jemand grimmig, sag ich lieber nichts.”
Immer wieder steigt Heimweh in ihm hoch: Die Verwandten, die
Freunde, die warme Sonne Benins, der Klang seiner Muttersprache Fon… Dass es ihn ausgerechnet nach Deutschland verschlagen hat, verdankt Gildas einer Entwicklungshelferin. Damals konnte er ein Praktikum in einer Tischlerwerkstatt machen, die eine deutsche Stiftung mit Top-Maschinen ausgestattet hatte. Dieser Dame war seine Einsatzbereitschaft, Offenheit und Wissbegier aufgefallen, und sie schlug ihn für ein Stipendium vor: „Alle Bedingungen waren erfüllt, mein Arbeitgeber stellte mich für zwei Jahre frei, gab mir auch die
Garantie, danach bei ihm weiterarbeiten zu können. Und so bekam ich die Einladung nach Deutschland.”
Dort empfing nicht jeder den Afrikaner mit offenen Armen: In der Straßenbahn machten sich zwei Jugendliche über ihn lustig. Sie schnitten Grimassen und grunzten wie Schweine. „Richtig verletzend. Ich musste mich sehr beherrschen!” Gildas erinnert sich aber auch an nette Begegnungen: An Studenten, die abends mit ihm Karten spielten, oder an eine ältere Dame, die er in der Kirche kennen gelernt hatte. „Am ersten Weihnachtstag, wo es menschenleer und totenstill war, hat sie mich mittags ins Restaurant eingeladen und danach zu sich nach Hause zum Kaffeetrinken.”
In Benin war Gildas auf die Fokolar- Bewegung gestoßen, die aber in Magdeburg offenbar keiner kannte.
Bis ihm jemand zu seiner großen Freude eine Adresse in Berlin zusteckte, wo er nach dem Deutschkurs sowieso ein Praktikum absolvieren sollte. „Wir hatten von den Jugendlichen der Bewegung eine Band”, erzählt Conny, heute seine Ehefrau, die aus Halle zum Studium nach Berlin gekommen war. „Im Prinzip habe ich einfach versucht, Gildas über die Musik einzubeziehen.” Auch wenn sich Conny mit Freunden zum Paddeln verabredete, lud sie ihn mit ein. „Mir war wichtig, dass er Leute kennenlernt. Dass dann mehr daraus wurde, ging mehr von ihm aus.”
Sein traumatischstes Erlebnis hat Gildas bei einem Ausflug an die Ostsee. Er rief gerade aus einer Telefonzelle einen Kumpel an, um zu sagen, dass er gut angekommen war, da trommelten fünf, sechs Jugendliche wie wild an die Tür: „Scheißneger, komm ‘raus!” Gildas musste auflegen. Er verließ die Zelle und wollte einfach weggehen, während die anderen hinter ihm herschimpften. „Die hatten Bierflaschen in der Hand. Die zerschmetterten sie direkt vor mir, um mir Angst zu machen. Dann kam einer und hat mich von hinten gepackt.” Gildas riss sich los und rannte, was das Zeug hielt. Er lief an Vorgärten vorbei, aus denen Leute über ihn lachten. „Statt einzugreifen, amüsierten sie sich auch noch, dass ich gejagt wurde!”
Irgendwann wurde Conny schwanger, ungeplant. Jonathan wurde geboren, wenige Wochen, bevor Gildas zurückmusste nach Afrika. „Manche meinen, ich hätte ihn mit Absicht gezeugt, um in Deutschland einen Fuß in der Tür zu behalten,” erzählt Gildas. „Aber ich wollte hier nicht leben.” Im Gegenteil: Bis dahin hatte er kaum erwarten können, in die Heimat zurückzukehren. „Jetzt dagegen musste ich Conny und unseren Erstgeborenen hier lassen, die ich gern hatte. Da war ich doch traurig!” Wie sollte es weitergehen?
Conny studierte damals Zahnmedizin. Sie wäre auch bereit gewesen, nach Afrika zu gehen, wollte aber erst das Studium beenden. Noch bevor Jonathan ein Jahr alt wurde, bekam Gildas ein Visum und konnte wieder nach Deutschland einreisen. Nun waren die drei wieder vereint, und Gildas suchte eine Stelle als Tischlergeselle. Er will sich anpassen, ohne sich jedoch zu verbiegen oder Herkunft und Temperament zu verleugnen. Seine Fröhlichkeit lässt er sich auch durch missmutige Kollegen nicht nehmen: „Sie könnten sich ja auch ärgern, weil ich bei der Arbeit gern singe. Stattdessen höre ich: Es ist angenehm, mit dir zu arbeiten. Gut, dass wir dich haben!”
Dann wieder gab es Erlebnisse, die Gildas’ Wunsch bestärkten, Tischlermeister zu werden und sich selbständig zu machen:
Ein Kunde kam in die Werkstatt. Geselle Gildas fragte, ob er ihm behilflich sein könne. Der Kunde ging an ihm vorbei und wandte sich an den Lehrling, einen Weißen. „Als ob ein Schwarzer nur ein Hilfsarbeiter oder ein Praktikant sein kann!”
Gildas stammt aus einer relativ armen Familie. „Vielleicht will ich deshalb immer weiterkommen.” Die Meisterprüfung zu machen, bedeutete jedoch, seinen Job aufzugeben und zwei Jahre lang zu lernen. Wäre er der Paukerei gewachsen? Würden die Sprachkenntnisse reichen? Den Schritt wagen ließ ihn sein Gottvertrauen: „In Deutschland kann man alles versichern. Meine beste Versicherung ist Gott. Keiner passt besser auf, dass es mir gut geht!”
“Dass sie mit Gildas eine glückliche Ehe führt, liegt für Conny an der gemeinsamen christlichen Basis. „Es ist die Sicherheit, dass er nicht als Macho oder mit Gewalt daherkommt, sondern immer respektvoll.
Dass wir Mitgefühl zeigen für den anderen.” Wenn es Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen gibt, liege es eher an den üblichen Unterschieden zwischen Mann und Frau als an der kulturellen Verschiedenheit. Conny empfindet ihre Partnerschaft als gegenseitige Bereicherung: „Er profitiert von meinem Planungstalent und ich von seiner Offenheit und Lockerheit. Mir kommt aber auch entgegen, dass er nicht wie viele Afrikaner die ganze Familie herholt, denn das führt leicht zu Spannungen.”
Auch gemeinsame Freundschaften und die engen Kontakte zu anderen Familien der Fokolar- Bewegung wirken sich positiv auf ihre Beziehung aus: „Es gibt kein Schwarzweiß. Ich werde so akzeptiert, wie ich bin”, sagt Gildas. „Mit ihnen teilen wir Freud und Leid. Es gibt Momente, da fühle ich mich sauwohl!”
Schließlich schaffte Gildas seinen Meisterbrief, auch weil Conny ihm den Rücken freihält. Würde sie nicht in einer Zahnarztpraxis arbeiten, hätten sie sich die lange Auszeit nicht leisten können. Und auch jetzt kann er die Familie nicht allein ernähren. Aber er genießt es, sein eigener Herr zu sein: „Ich kann morgens meine Töchterchen füttern oder mal mit beiden Söhnen herumtollen. Welcher Vater kann das schon?”
Wenn Conny einen Familienurlaub plant, fragt sie am Zielort nach, wie es mit der Ausländerfeindlichkeit steht: „Ich will meinen Kindern gewisse Erfahrungen ersparen!” Vermeiden, dass sie über die Medien von Übergriffen auf Afrikaner erfahren, kann sie jedoch nicht. „Dann spreche ich mit ihnen darüber: Dass man bei bestimmten Leuten aufpassen, sie nicht provozieren soll. Das ist eine ständige Sorge im Hinterkopf.” Daran knüpft Gildas an: „Ich habe einen Traum: dass man mich und meine Kinder nicht als Exoten betrachtet. Sondern dass es einmal ganz normal ist, einen Schwarzen in der Nationalmannschaft oder bei der Polizei zu haben.”
Clemens Behr
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2011)
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