Opfer? – Das kann jeder sein!
Kinder und Jugendliche nutzen Chats, soziale Netzwerke, youtube und Handys für Kontakte, Referate, Verabredungen, aber auch um über andere zu lästern, sie zu beleidigen oder zu bedrohen. Cyber-Mobbing nennt man dieses Phänomen. Birgit Kimmel von der Landesanstalt für Medien in Rheinland-Pfalz erklärt, was dahinter steckt.
Frau Kimmel, man hört immer öfter, dass Kinder und Jugendliche sich im Netz gegenseitig fertigmachen.
Kimmel: Ja. Dieses Belästigen, Beleidigen oder Bedrohen mit Hilfe des Internets nennt man Cyber-Mobbing. Es geschieht beispielsweise durch E-Mails, beim Chatten, in sozialen Netzwerken, durch Videos auf Portalen oder per Handy, durch SMS oder lästige Anrufe.
Beim Mobbing im „realen” Leben weiß das Opfer normalerweise, wer hinter den Verleumdungen und Beschimpfungen steckt. Im Netz können die Täter anonym bleiben: Beim Handy kann die Nummer unterdrückt sein, im Chat arbeiten viele unter falschem Namen und in sozialen Netzwerken mit einem „fake- profil”, einem gefälschten Profil. Die Opfer haben zwar meist einen Verdacht, wer hinter den Attacken stecken könnte, aber ganz sicher können sie nicht sein. So entsteht generelles Misstrauen.
Andererseits passiert Mobbing im Netz auch sehr offen. Da gibt es Hassgruppen oder Hassprofile, wo ganz offen ein Bild von einem Klassenkameraden eingestellt wird. Andere können sich zuordnen und beispielsweise bestätigen, dass auch sie Sabrina blöd finden.
Manchmal kann das auch ein schlechter Streich sein; etwas, das man mal schnell dahin sagt.
Kimmel: Schon, und normalerweise spricht man auch erst von Mobbing, wenn jemand mehrfach hintereinander in nicht zu großen Abständen belästigt wird. Aber was im Netz geschrieben wird, steht da, und ein Film bei youtube kann immer wieder abgerufen werden. Das geht rund um die Uhr, auch wenn es sich nur um eine einzelne Tat handelt. Wenn man früher gehänselt wurde, hatte man zumindest zuhause noch einen geschützten Bereich. Der ist beim Cyber-Mobbing nicht mehr gegeben.
Wie viele Kinder und Jugendliche sind davon betroffen?
Kimmel: Die Zahlen gehen auseinander. Aber etwa 20 Prozent der Schüler geben an, dass sie selbst betroffen sind oder andere kennen, die das schon erlebt haben. Allerdings bleibt bei den Umfragen offen, wie ehrlich die Befragten geantwortet haben, ob sie sich wichtig machen wollten oder keinen Mut hatten, es einzugestehen.
Jeder Fünfte, das ist beträchtlich. Kann man sich denn schützen?
Kimmel: Vorbeugend dadurch, dass man genau überlegt, welche Daten man wem gibt. Das fängt bei der persönlichen Handynummer an, was aber für Jugendliche oft schwer umsetzbar ist, denn in der Regel gehört es dazu, sie in der Klasse weiterzugeben. Vor allem im Netz und in sozialen Netzwerken sollte man aber sehr vorsichtig sein, was man von sich preisgibt, damit das dann nicht von Fremden genutzt oder beeinflusst werden kann.
Allerdings kommen die Täter wohl meist aus dem direkten Umfeld.
Jugendlichen sollte man vor allem raten, nicht zu reagieren, auf eine SMS oder wenn sie jemand im Chat blöd anspricht. Die Reaktion veranlasst Täter meist dazu, weiterzumachen. Wenn man nicht reagiert, kann der Angriff auch im Sand verlaufen. Eine Seite in einem sozialen Netzwerk sollte man möglichst schnell löschen lassen und den Betreiber kontaktieren.
Reagieren die denn?
Kimmel: Schon. Viele Netzwerke haben da Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dazu gehört die gesamte VZ- Gruppe mit SchülerVZ, StudiVZ und MeinVZ, außerdem „wer kennt wen” und die „Lokalisten”. Die Betreiber haben sich einen Verhaltenskodex gegeben und wollen nicht, dass auf ihren Seiten Personen bedroht oder belästigt werden. Entsprechende Seiten werden in der Regel gelöscht, und die Täter müssen mit Sanktionen rechnen, auch damit, dass ihr Profil gelöscht wird.
Außerdem sollte man Jugendliche anhalten, sich Hilfe zu holen. Das ist jedoch oft ein Problem. Opfer schämen sich und fragen sich, warum gerade sie ausgesucht wurden.
Oft haben Schüler auch Angst, als Petzer zu gelten. Deshalb sollte man über diese Themen in der Klasse reden, und soweit möglich ein Helfersystem aufbauen mit Schülern, die man ansprechen kann, wenn man sich nicht traut, direkt zu einem Erwachsenen zu gehen.
Hilfreich ist auch, wenn Schulen einen Antimobbing-Vertrag entwickeln und damit deutlich machen, dass Mobbing nicht geduldet wird. Mit Projekten kann man das unterstreichen und einen Antimobbing-Beauftragen einsetzen.
Haben Sie Erfahrungswerte, an welchen Schulen es das gibt?
Kimmel: Noch in sehr wenigen. Häufig läuft alles bei den Personen zusammen, die sich um Gewaltprävention oder Streitschlichtung, also Mediation, kümmern.
Im Bereich Cyber-Mobbing gibt es erst wenig Forschung, aber vieles kann man vom allgemeinen Mob- bing ableiten. Danach sind vor allem die ersten vier bis sechs Wochen in neuen Gruppen oder Klassen entscheidend. Da werden Hierarchien gebildet, und es gibt immer Personen, die austesten, wie jemand reagiert, wenn man ihn anpöbelt oder tatsächlich bedroht. Diejenigen, die sich dann nicht abgrenzen können, sind häufig die Opfer. Es entwickeln sich entsprechende Rollen: die Täter; ihre Assistenten, die sie unterstützen; andere, die am Rande stehen und zuschauen; jene, die sich überhaupt nicht beteiligen und diejenigen, die versuchen, das Opfer zu schützen. Nur solange sich die Gruppe neu konstituiert und die Opfer ausgetestet werden, kann man noch eingreifen. Wenn ein Opfer schon in dieser Rolle ist und sich ein Großteil der Klasse auf die Seite des Täters stellt oder die Augen zumacht, kann man nur noch ganz wenig tun.
Manchmal werden auch Lehrer gemobbt.
Kimmel: Ich denke, Lehrer haben eine besondere Rolle und auch eine entsprechende Macht. Dass Schüler sich dieser Macht ausgeliefert fühlen, ist nichts Besonderes, auch dass Lehrer nicht immer ein Gespür dafür haben und ihre Machtposition manchmal ausnutzen. Ein gewisses Ventil muss man den Schülern zugestehen. Hinter alldem stehen jedoch grundsätzliche Fragen: Wie lange geht so etwas in Ordnung; was passiert, wenn die Person beleidigt wird; wie kann man das Verhalten kritisieren, aber nicht die Person in ihrer Ganzheit niedermachen oder beleidigen? Da muss man sehr differenzieren.
Zurück zum Netz. Kann man rechtlich gegen Mobbing vorgehen?
Kimmel: Es gibt kein Cyber-Mobbing-Gesetz. Trotzdem gilt etwa das Recht am eigenen Bild, und wenn ein Bild ohne Zustimmung eingestellt wurde, kann man rechtlich dagegen vorgehen. Wenn jemand mit dem Handy rund um die Uhr belästigt wird, kann man strafrechtlich ermitteln, ebenso wenn Urheberrechte verletzt werden. Man kann also alle Gesetze durchforsten und nachschauen, was man anwenden könnte.
Das ist aber ein mühsamer Prozess!
Kimmel: Ja, und es gibt sicherlich Situationen, in denen es gerechtfertigt ist. Aber die erste Frage sollte sein, wie man dem Opfer tatsächlich hilft. Gerade wenn es um Personen aus der Klasse oder dem Freundeskreis geht, hat es in erster Linie das Bedürfnis, dass das aufhört und die Situation in der Klasse sich wieder normalisiert. Dazu kann man auch Experten von außen in die Klasse holen, ohne dabei direkt den Täter oder die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Denn sobald man Täter und Opfer zusammenbringt oder das Opfer scheinbar einen besonderen Schutz bekommt, verstärkt das in der Regel das Mobbing mehr, als dass es dem Opfer nutzt.
Allerdings sollte ein Täter vom Lehrer auch klar signalisiert bekommen, dass er ihn im Blick hat.
Gibt es auch unabhängige Stellen, an die man sich wenden kann?
Kimmel: Die „Nummer gegen Kummer” beispielsweise, ein Beratungstelefon für Jugendliche; oder die Webseite „yuuuport”, an die man sich schriftlich wenden kann und eine Beratung erhält; außerdem die Online-Beratung von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE).
Und wenn eine Mutter einen Verdacht hat, aber keine konkreten Anhaltspunkte, was kann sie tun?
Kimmel: Signale von Kindern und Jugendlichen sind häufig körperlicher Art: Bauchweh, Kopfweh, nicht in die Schule gehen können. Da sollte man sehr genau hinschauen und auch mal nachfragen, ob es Probleme gibt, und unter Umständen mit dem Lehrer sprechen.
Kinder wollen sich mit ihren Problemen nicht unbedingt outen und meinen oft, wenn sie das den Eltern sagen, gehen die in die Schule und es wird alles noch viel schlimmer.
Ganz wichtig ist dabei für Eltern, sich zu fragen, was gebe ich selbst an Werten weiter, wie verhalten wir uns in der Familie, ziehe ich selbst über die Nachbarin her.
Natürlich haben die neuen Medien das Thema Mobbing verschärft. Aber die sozialen Phänomene dahinter kennen wir seit Generationen. Das ist nichts Neues. Das muss man sich bewusst machen. Genau so wie die Tatsache, dass es nicht das typische Opfer gibt! Wenn man jemanden zum Opfer machen will, gibt es immer einen Aufhänger; bessere Noten, andere Klamotten, Einstellungen oder Gewohnheiten. Also kann jeder betroffen sein! Und wenn man das vermittelt, schafft das Erleichterung!
Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg
Weitere Infos: www.klicksafe.de; www.saferinternet.at; www.konflikt-kultur-freiburg.de; die Berliner Anti-Mobbing-Fibel (PDF)
Birgit Kimmel
(Jahrgang 1965) ist pädagogische Leiterin der EU-lnitiative klicksafe.de. Die Seite kämpft gegen Cyber-Mobbing und für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet. Die Referentin für Medienpädagogik bei der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz studierte Erziehungswissenschaften und war danach 13 Jahre als Erzieherin in den Bereichen Kinderpsychiatrie, Kinder- und Jugendheim und Kindertagesstätte tätig.
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2011)
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