3. Februar 2012

Namibia – Hart wie Kameldornholz

Von nst_xy

Namibia ist das trockenste und am dünnsten besiedelte Land Afrikas südlich der Sahara. Jeder Fünfte der nur 2 Millionen Einwohner hat Aids. Neue Stadt-Mitarbeiter Christian Bahlmann traf bei einem Besuch auf endlose Weite, weiße Farmer, Schwarzwälder Kirschtorte und eine Amerikanerin, die wie eine Löwin für Waisenkinder kämpft.

Nach mehr als 70 Kilometern auf einer sandigen Geröllstraße quer durch die Namib-Wüste, die hier eher eine Steppe als eine Sandwüste ist, deutet ein Holzschild darauf hin, dass auf der rechten Seite das Farmgelände von „Koiimasis” beginnt. Das Wort bedeutet „Versammlungsplatz” und stammt aus der Sprache der San, der ersten Bewohner dieser atemberaubenden Landschaft im Südwesten Afrikas. Bis zur Ankunft der Europäer war Namibia nur dünn von Nomadenvölkern besiedelt. In dieser Gegend finden sich einige der ältesten Zeugnisse menschlichen Lebens weltweit.

Das Farmgelände mit seinen silbernen Gräsern liegt eingebettet zwischen dem Rooirand-Plateau und den südöstlichen Ausläufern der Tirasberge, deren Granitfelsen im Sonnenuntergang glutrot leuchten. 80 000 Hektar groß ist die Farm, das entspricht fast der Fläche
Berlins. Von der Hauptstraße geht es etwa 20 Kilometer durch Weideland, immer wieder unterbrochen durch Holzgatter, bis man schließlich zum Haupthaus der Farm gelangt.
Fast sieben Autostunden weiter nördlich, in der namibischen Hauptstadt Windhoek, kramt MaryBeth Gallagher in einer großen Kiste. Sie sucht ein Paar Fußballschuhe, Größe 36, für den 12-jährigen Funa. Der Junge will unbedingt ins Team der „Little Pumpkins”, der kleinen Kürbisse, wie sie wegen ihrer orangefarbenen Trikots genannt werden. Seit 2005 leitet die Amerikanerin im Stadtteil Katutura eine Kindertagesstätte, die von der Organisation Catholic Aids Action betrieben wird.

Katutura bedeutet in der Sprache der Einheimischen „Ort, an dem niemand leben will”. Der Name ist Programm: In den 50er-Jahren wollte die Stadtverwaltung aus Windhoek eine „weiße” Stadt machen. Die im Stadtgebiet wohnenden Schwarzen wurden nach Katutura zwangsumgesiedelt. Fast 60 Prozent der Einwohner Windhoeks leben heute in diesem Stadtteil, der neben einer hohen Arbeitslosigkeit und Kriminalität auch eine der höchsten AIDS-Verbreitungsraten des Landes aufweist. Fast alle Kinder, die MaryBeth betreut, sind selbst infiziert oder aber Halb- oder Vollwaisen.

Der Kontrast zwischen dem rauen Leben in Katutura und der Idylle in Koiimasis könnte kaum größer sein.

Seit vier Generationen ist das Farmgelände im Besitz der Familie Izko. Der Urgroßvater von Wulff Izko kam mit der deutschen Schutztruppe Anfang des letzten Jahrhunderts nach Deutsch-Südwestafrika, wie Namibia bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hieß. Ein „helles, warmes Plätzchen an der Sonne” wollten die Deutschen in der Kaiserzeit. Gemeint waren Kolonien. Neben dem Anbau von Diamanten und Kupfer war es insbesondere die Viehzucht, die deutsche Siedler ins Land lockte, bis 1914 kamen rund 13 000. „Hart wie Kameldornholz ist unser Land und trocken sind seine Reviere”, heißt es im alten Südwesterlied, das von den harten Lebensbedingungen und der Einsamkeit fern der Heimat erzählt.
Bis heute ahnt man auch auf Koiimasis, wie hart das Siedlerleben war. Die nächsten Nachbarn leben etwa 40 Kilometer entfernt. Früher waren die Farmer reine Selbstversorger. Heute erreicht man die nächste Einkaufsmöglichkeit mit dem Auto über eine Schotterpiste in etwa zwei Stunden. Sollte jemand ernsthaft krank werden und dringend medizinische Hilfe benötigen, gibt es einen Buschflieger, der einen ins nächste Krankenhaus bringt. Selbst einen Telefon- und Internetanschluss haben die Izkos.

Viele weiße Farmer verbinden positive Erinnerungen an die Zeit von Deutsch-Südwestafrika: Schwarzwälder Kirschtorte, Bier, Schnitzel, das ist das positive Erbe der deutschen Kolonialherren.

Aber es gibt auch eine andere Seite: 1904 rebellierten die Herero, eine der größten Ethnien Südwestafrikas. Die Deutschen ließen den Aufstand blutig niederschlagen. Schätzungen zufolge starben bis zu 80 000 Herero. Historiker sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. 1919 musste das Deutsche Reich im Versailler Vertrag auf alle Kolonien verzichten – vorbei war es mit dem Platz an der Sonne. Der Völkerbund stellte Südwestafrika unter südafrikanische Verwaltung. Das Apartheid-Regime führte das Homeland-System ein: Jede Bevölkerungsgruppe bekam ein festes Territorium zugewiesen. Die Swapo – damals Befreiungsbewegung, später Regierungspartei – begann 1966, militärisch für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Erst 1988 kam es zum Waffenstillstand; Südafrika zog seine Truppen ab. 1989 fanden die ersten freien Wahlen statt. Namibia ist seitdem unabhängig.
Die sozialen Spannungen der Kolonial- und Apartheidzeit sind bis heute im ganzen Land gegenwärtig.

Die Kindertagesstätte in Katutura ist mit einem hohen Zaun gesichert; eine bewaffnete Wache beschützt die Einfahrt. Bis zu 100 Kinder kommen hier an jedem Nachmittag zum Spielen, Essen und zum Nachhilfeunterricht.

MaryBeth hat sich mit bestimmten Regeln eine mütterliche Autorität aufgebaut. „Die Kinder kommen zu uns, damit sie der heimischen Gewalt, sexuellen Übergriffen und dem Elend entfliehen können. Es ist schon ein Gewinn für die Kinder, für ein paar Stunden mal Kind sein zu können”, erklärt sie. Für ihre Schützlinge kämpft sie wie ein Löwe: Wenn sie erfährt, dass ein Kind in der Schule von einem Lehrer geschlagen wurde, wird sie am nächsten Tag beim Direktor vorstellig, auch wenn sich dadurch nicht wirklich etwas ändert. „Wenn Ihnen unsere Erziehungsmethoden nicht passen, dann gehen Sie doch zurück nach Amerika”, bekommt sie nicht selten zu hören.

Auch die beiden Kinder des Farmerehepaars Izko leben in Windhoek, in einem Internat in der Innenstadt. Sie kommen zweimal im Jahr nach Hause. Seine Frau Anke hat Wulff Izko mit einem kleinen Trick nach Koiimasis gelockt: Er besuchte mit ihr die Farm nach einem der seltenen Regenfälle, wenn die Halbwüste in allen Farben erblüht. Sie war begeistert und ahnte nicht, wie selten sie fortan ein solches Blumenmeer zu Gesicht bekommen würde. Heute haben beide ein erträgliches Auskommen auf ihrer Farm. Rinder- und Straußenzucht sind die klassischen Standbeine, außerdem die Zucht von Ziervögeln und Wildpferden. Wegen des kargen und trockenen Bodens kann hier nur extensive Landwirtschaft betrieben werden, das heißt relativ wenige Tiere verteilen sich auf dem weitläufigen Weideland.

Zunehmend wichtig wird – wie für fast alle Farmen in Namibia – der Tourismus. Auf Koiimasis gibt es eine Lodge mit Hotelbetrieb, einen Zeltplatz und mehrere kleine Chalets. 1998 schlossen sich die Izkos mit vier anderen Farmern zusammen, um das Gebiet um die Tirasberge einseitig und inoffiziell unter Naturschutz zu stellen. Ziel war nicht nur, den Naturpark gemeinsam touristisch zu vermarkten. Dahinter steht auch die Angst der noch etwa 4500 weißen Farmer in Namibia, früher oder später von der Regierung enteignet zu werden. Vor einigen Jahren wurden weiße Bauern aufgefordert, ihre Farmen binnen zwei Wochen gegen eine angemessene Entschädigung der Regierung zu überlassen, andernfalls stehe ihrer Familie die Enteignung bevor. Bei vielen Siedlern wurden Erinnerungen an das Nachbarland Simbabwe wach. Dort begannen die Behörden im Jahr 2000 damit, Farmland zu enteignen, um es in viele kleine Parzellen aufzuteilen und der schwarzen Bevölkerung zu übereignen. Simbabwes Diktator Robert Mugabe verursachte damit nicht nur den Kollaps der Landwirtschaft, sondern den seines ganzen Landes.

Weiße machen heute gerade einmal sechs Prozent der 2 Millionen Namibier aus, besitzen aber mehr als die Hälfte des kommerziellen Farmlandes. Das meiste Land ist allerdings unfruchtbar und ungeeignet für kleinbäuerliche Betriebe. Pro Rind werden mindestens 20 Hektar Land benötigt. Die Farmer der Tirasberge wollen der Aufteilung ihres Landes zuvorkommen und fahren die landwirtschaftliche Nutzung schrittweise zurück. Es dürfte der Regierung schwerfallen, ein Naturschutzgebiet, auch wenn es nicht als solches anerkannt ist, zur intensiven Viehzucht freizugeben.

Ob eine Landreform tatsächlich die sozialen Probleme des Landes löst, ist fraglich. Längst ist der Tourismus eine der wichtigsten wirtschaftlichen Säulen des Landes.

Und die ist fast ausschließlich in den Händen der Weißen. MaryBeth setzt auf gute Bildung. Mittlerweile haben die ersten Kinder, die sie seit 2005 betreut, ihr Abitur gemacht, und dank Spenden aus dem Ausland können sie jetzt die Universität besuchen. „Wir brauchen in Namibia eine Mittelschicht, gut ausgebildete junge Leute, die sich nicht mit dem zufrieden geben, wie Namibia heute ist”, meint sie. „Wenn meine Pumpkins einmal erwachsen sind, dann hoffe ich, dass sie sich für ein besseres Namibia einsetzen”.
Christian Bahlmann

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2012)
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