16. März 2012

Beziehungsmensch

Von nst5

Ende 1958 eröffneten zwei Italiener und ein Österreicher das erste Fokolar im deutschsprachigen Raum in Köln-Longerich. Vittorio Fasciotti erinnert sich.

Vittorios Augen sind klar und lebendig und fast immer ein bisschen verschmitzt. Auch, wenn er von seinen ersten Eindrücken in Deutschland erzählt. Mit Carlantonio Tommasin, 25, war der damals 28-Jährige von Mailand nach Köln aufgebrochen, den Koffer voller Wollsachen, denn es war Dezember. In jenem Jahr hatte die italienische Bischofskonferenz die Errichtung neuer Fokolar-Gemeinschaften in ihrem Heimatland verboten.

„Das Haus, das uns beherbergen sollte, war am Ortsrand“, erinnert sich Vittorio Fasciotti, die Backsteine von vorbeiratternden Zügen rußgeschwärzt; schräg gegenüber ein düsterer Friedhof. Es war Winter. „Wir gingen über die verlassene, nebelige Straße, als uns ein erleuchtetes Schaufenster auffiel. Als wir näher kamen, war darin ein kleiner, weißer Kindersarg aufgebahrt, daneben zwei Kerzen: ein Bestattungsinstitut. Alles war für uns sehr fremd!“

Das Haus hatte eine Pfarrgemeinde dem „Speckpater“ Werenfried van Straaten und seiner Ostpriesterhilfe zur Verfügung gestellt. Es hatte als Altersheim, Entbindungsstation, Kindergarten und Krankenhaus fungiert und sollte jetzt das Fokolar für Vittorio, Carlantonio und den Österreicher Florian Schafferer sein. Pater Werenfried hatte die „Focolarini“ mit offenen Armen empfangen, weil ihre Spiritualität ihn begeisterte.

Zwar hatte Vittorio in der Schule Deutsch gelernt, in „Longerisch“ sprach man jedoch Kölsch. „Ich verstand einzelne Worte, aber nicht den Zusammenhang. Zuerst versuchte ich, ganze Sätze zu verstehen, dann die Gedankengänge, letztlich aber ging es mir um den Menschen dahinter.“

Schon in den Jahren zuvor waren Deutsche, Österreicher und Schweizer auf die Fokolar-Bewegung gestoßen: Beim Studium in Rom, über Bekannte oder auf Reisen, die Gefährten und Gefährtinnen der Gründerin Chiara Lubich über die Alpen geführt hatten. Etliche hatten bei den mehrwöchigen Sommertreffen in den Dolomiten teilgenommen, waren getroffen vom „Leben wie unter den ersten Christen“, das sie dort erlebt hatten und nun im eigenen Umfeld weiterführen wollten. Für sie waren die drei nach Deutschland gekommen, um ihr Leben zu teilen und sie zu begleiten. Aber auch, um das innere „Feuer“ weiterzugeben, das ihr Leben verändert hatte.

Foto: privat

1930 in Mailand geboren, hatte Vittorio Ende 1949 erstmals Kontakt zu Fokolaren. Ein Freund hatte ihn zu einer Begegnung mit Ginetta Cagliari, einer der ersten Fokolarinnen, mitgenommen. Vittorio erinnert sich nur noch, dass ihn die Gruppe auf dem Heimweg in der Straßenbahn begleitete. Dass sie sich dabei laut über Jesus unterhielten, war ihm so peinlich, dass er heilfroh war, als er endlich an seiner Haltestelle rausspringen konnte.

Und doch muss etwas von dieser Begegnung hängen geblieben sein. Denn als er seiner Mutter Monate später eher widerwillig einen Gefallen tat, fiel ihm plötzlich ein Wort von Jesus ein, das er in Mailand aufgeschnappt hatte: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan. „In dem Moment hab ich Gott so nah empfunden wie noch nie. Mir wurde bewusst: Jede Begegnung mit einem Menschen kann eine Begegnung mit Jesus sein!“

Später wurde Vittorio wichtig, das Evangelium gemeinsam mit anderen zu leben. Daher besuchte er während seines Ingenieur-Studiums immer öfter das Fokolar in Mailand. „Wir wollen für die Einheit leben.“ Mit einfachen Parolen ließ er sich nicht abspeisen. Was bedeutete das denn? Mancher empfand seine Nachfragen als unbequem. Mit den anderen so in der Bereitschaft leben, für sie das Leben zu geben, dass Jesus sein Versprechen wahr machen kann: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.“ Diese Gegenwart von Jesus hat Vittorio im Fokolar immer wieder gespürt, und auch 1953, als er das erste Mal auf einem der Sommertreffen war: „Wir haben miteinander gelebt, unsere Erfahrungen mit dem Wort Gottes ausgetauscht, waren eine große Familie.“ Nachdem Vittorio 1956 sein Studium abgeschlossen hatte, trat er in eine Fokolar-Gemeinschaft ein.

In Köln arbeiteten die Fokolare anfangs für das Werk von Pater Werenfied. „Wir entluden Kapellenwagen, sortierten Lebensmittel und Kleidung, brachten Päckchen zur Post, die für die Ostblockländer bestimmt waren, und pressten Lumpenballen.“ Jugendliche, die sie kennen gelernt hatten, kamen, um zu helfen. Manchmal erzählten die drei ihnen etwas von ihrem Leben als Fokolare. „Ich fragte, ob sie das stören würde, und bekam zu hören: Aber gerade deshalb kommen wir doch!“

In ihrer Freizeit waren sie viel unterwegs, besuchten Gruppen und Familien, die mehr über die Fokolare wissen wollten. „Wahrscheinlich waren die Leute durstig nach überzeugenden Erfahrungen“, erklärt sich Vittorio das große Interesse und die rasche Ausbreitung damals. „1961 hat mir ein Priester in Berlin gesagt: Eure Botschaft ist, Gott liebt dich unendlich. Das ist genau das Richtige für uns Deutsche, denn wir haben nicht mehr geglaubt, dass wir nach dem Weltkrieg noch geliebt werden können.“

Was Vittorio und seine Mitstreiter vermittelten, stieß nicht immer auf Begeisterung: „Manchmal dachte jemand, wir wären eine Sekte. Oder: Die Italiener sind zu sentimental, ihr Glaube naiv: So wörtlich, wie sie sagen, kann man das Evangelium gar nicht nehmen! Vielleicht waren wir wirklich etwas naiv“, meint Vittorio im Rückblick. „Aber was wir weitergaben, war nichts als unser Leben, und das hat viele überzeugt!“

Einmal kam eine Gruppe von Studenten zu Besuch. „Wir erklärten ihnen, wir wollten unsere Wohnung so in Ordnung halten wie Maria ihr Haus mit Josef und Jesus in Nazareth.“ Was mögen die Studenten wohl verstanden haben, fragte sich Vittorio im Nachhinein. „Solche Begegnungen zwangen uns zu überlegen, wie meinen wir das eigentlich, wie können wir es erklären? Nachfragen haben uns nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern zu einer neuen, notwendigen Tiefe geführt.“

Nach einem längeren Intermezzo von 1981 bis 2001 in Rom war Vittorio, heute 81, wieder nach Deutschland zurückgekehrt: „Ich fühle mich hier zuhause. Die Gründlichkeit und die Echtheit in den Beziehungen liegen mir. Heimat ist für mich überall, wo ich dank der Gegenwart von Jesus unter den Menschen tiefe Beziehungen erfahren durfte.“

Nach den aktuellen Herausforderungen für Kirche und Fokolar-Bewegung gefragt, spricht Vittorio von der Notwendigkeit zu verstehen, was der Mensch heute braucht: „Oft wird er behandelt wie eine Nummer. Man funktioniert, aber das Sein fehlt.“ Zwar bemühten sich Unternehmen immer mehr, persönlicher zu wirken. „Aber das eigentlich Persönliche ist die Liebe Gottes und unsere Liebe zu den Menschen. Bei meiner ersten Arbeitsstelle in einem Stahlwerk in Mailand haben die Vorgesetzten den Arbeitern auf die Schulter geklopft, um zu zeigen: Wir gehören zusammen. Das hieß aber nicht, dass die Arbeiter wirklich persönlich gemeint und angenommen waren!“

Das Hasten von einem Event zum nächsten erfülle niemanden. „Ich glaube nicht an Formen, an Aktivitäten“, bekennt Vittorio. „Sie können ein Mittel sein, aber nicht das Eigentliche: Ist Gott erfahrbar? Es reicht nicht, dass wir von ihm reden. Die Menschen müssen ihn erleben können, durch unsere Liebe, dadurch, dass wir ihn wirken lassen. Voraussetzung ist unsere persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Erst müssen wir ihn selbst erfahren, dann werden ihn auch andere erfahren können.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2012)
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