CHINA – Der rätselhafte Riese
Chinesische Produkte erobern den Weltmarkt, westliche Politiker stehen in Peking Schlange, um Investitionen in ihr Land zu holen. Signale der Offenheit und der Dialogbereitschaft machen Hoffnung. Beängstigend sind dagegen der große Militärapparat und der steigende Konsumbedarf des Milliardenvolkes angesichts begrenzter Ressourcen. Wie wird die Rolle Chinas auf unserem Planeten eingeschätzt? Wir haben einige Kollegen unserer Schwesterzeitschriften um ihre Sicht gebeten.
Afrika: Neue Kolonisatoren?
Der im Januar eröffnete neue Sitz der Afrikanischen Union in Addis Abeba wurde vollständig von Chinesen finanziert: Ein Symbol für den raschen Wandel, der im Gang ist. China hat keine koloniale Vergangenheit in Afrika, ist inzwischen aber auf dem Kontinent in allen strategischen Bereichen zu finden. Angefangen hat es 1970 mit dem Handel von Baumaterial, Textilien und Medikamenten. Im letzten Jahrzehnt ist China dann mit voller Kraft auch in den Banken- und Elektronik-Sektor und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen vorgedrungen.
Auf dem Asien-Afrika-Gipfel 2005 hat der chinesische Präsident Hu Jintao „den Beginn eines neuen Typs strategischer und langfristiger Partnerschaft“ angekündigt und von einer „Win-Win“-Situation für beide Seiten gesprochen. Einigen Beobachtern zufolge geht Afrika aus diesem „Austausch“ jedoch als Verlierer hervor. Andere meinen, Afrika begehe denselben Fehler wie zur Zeit des Kalten Krieges, als sich Ostblock wie Westmächte afrikanische Ressourcen aneigneten, wo doch die Kontrolle der Rohstoffe von zentraler Bedeutung sei. Wieder andere werten Chinas Politik der Nicht-Einmischung als Respekt vor afrikanischer Selbstbestimmung.
Keiner von ihnen kann jedoch das zunehmende Gewicht Chinas in Afrika bezweifeln. Trotz der ungleichen Beziehung sieht der senegalesische Wirtschaftler Sanou Mbaye, ehemals Mitglied der Afrikanischen Entwicklungsbank, China nicht als neue Kolonialmacht. Als Beweis dafür führt er den westafrikanischen Staat Niger an: Dort hätten große chinesische Investitionen in den Schlüsselsektoren Öl und Wasserkraft auch die Entwicklung der Infrastruktur im Land vorangetrieben und Folgeinvestitionen nach sich gezogen, die der Bevölkerung gut tun.
Sanou zufolge sind heute mehr Chinesen in Afrika, als Europäer in den letzten vierhundert Jahren zusammen auf dem Kontinent waren. Diese starke Präsenz ist hier ein großes Thema in der gesellschaftlichen Diskussion. Was auch daran deutlich wird, dass in dem Netzwerk für soziale Gerechtigkeit „Fahamu“ über dreißig chinesische und afrikanische Forscher, Experten und Aktivisten zusammenarbeiten.
Lily Mugombozi, New City, Nairobi
Philippinen: Jahrhundertealte Verbindungen
Ein Blick in den Kleiderschrank zeigt: Viele Etiketten weisen chinesische Schriftzeichen oder das „Made in China“ auf. Manila hat eine „China Town“, chinesische Geschäfte, Kalender mit chinesischen Tierkreiszeichen; die elektronischen Geräte sind in China zusammengesetzt. Seit Generationen werden bei Beerdigungen keine roten Kleidungsstücke getragen – ein chinesischer Brauch. Seit wann gibt es diese engen Verknüpfungen mit der chinesischen Kultur?
In der Schule haben wir gelernt, dass unsere Vorfahren schon mit chinesischen Kaufleuten Handel trieben, bevor die europäischen Entdecker kamen. Schon vor der Kolonisierung machten Philippinos mit Hilfe von Schiffen aus Holz Geschäfte sowohl zwischen den philippinischen Inseln als auch mit dem Reich der Mitte. Sie boten Schildkrötenpanzer, Perlen, rohes Eisen, unbearbeiteten Marmor und Gewürze gegen chinesisches Porzellan, Papier, Waffen und Schießpulver.
In der Zeit der spanischen Herrschaft galten Chinesen wie Philippinos als die Hinterhofbewohner Manilas. Beide Volksgruppen durften nicht in den von Stadtmauern abgegrenzten Teil hinein, der den Eroberern und Beamten vorbehalten war. Mit der Zeit gab es auch gemischte Ehen: Berühmte Sino-Philippinos sind beispielsweise der verstorbene Erzbischof Jaime Sin und Ex-Präsidentin Maria Corazon Aquino.
Seit 2003 besteht eine enge Partnerschaft zwischen Peking und den ASEAN 1)-Staaten. Dessen ungeachtet wird heftig um die strategisch bedeutsamen Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer gestritten.
Der britische Schriftsteller und Kolumnist Martin Jacques sieht in China eine missverstandene Nation, weil sie mit westlichen Maßstäben schwer zu bewerten ist: Anstelle von Wirtschaft und Technologie sind im chinesischen Denken eher Kultur und Geschichte tragende Fundamente einer starken Nation. Sinnbild dafür ist die Rückgabe Hongkongs 1997 von den Briten an China: Obwohl liberale Sonderverwaltungszone, lebt es seitdem in Frieden als Teil der sozialistischen Volksrepublik.
Von der jahrtausendealten Entwicklung Chinas und der Verwurzelung der Identität in Kultur und Geschichte – anstatt in Zeitgeist und materiellen Werten – kann die Welt einiges lernen.
Giulian Geronimo, New City, Manila
1) Verband Südostasiatischer Nationen
Uruguay und Paraguay: Wachsende Handelsmacht
Die beiden südamerikanischen Länder produzieren vor allem landwirtschaftliche Güter. Sie sind kleine Spieler im gemeinsamen südamerikanischen Wirtschaftsraum „Mercosur“, der nicht mehr sehr gut zusammenspielt, seitdem sich die mächtigeren Nationen stärker abschotten und zugleich Soja-, Fleisch- und Reisexporte anstatt in den heimischen Markt bevorzugt nach China umlenken.
Umgekehrt ist China auch Handelspartner Nummer 1 bei der Einfuhr industrieller, insbesondere elektronischer Produkte. In Paraguay kontrollieren vor allem die koreanische und chinesische Kolonie den Import. Ciudad del Este, zweitgrößte Stadt des Landes, lebt fast ausschließlich davon; zum Teil ein Geschäft am Rande der Legalität.
Für Uruguay ist der Hafen von Montevideo das Haupteinfallstor für die Waren aus Asien, während Paraguay noch einen Teil des Hafens von Antofagasta am Pazifik im Norden Chiles als Freihandelszone erhalten hat – seine kürzeste Verbindung nach China. Unter anderem kommen dort Autoteile an, an deren Montage Südamerika mitverdienen kann. So gelangt eine große Bandbreite günstiger Nutzfahrzeuge, Kleinlastwagen und Busse ins Land, denen die Türen nach Europa verschlossen bleiben, weil sie den dortigen Sicherheitsvorschriften nicht genügen.
In den Regalen der Supermärkte und an den Verkaufständen beider Nationen sieht man nicht nur Kleidungsstücke minderer, sondern immer mehr auch besserer Qualität, so dass für die Produkte der kleinen Firmen vor Ort sowie auch für ihre argentinische Konkurrenz kein Platz mehr bleibt. Genauso ist der Markt preiswerter Haushaltsgeräte und Elektronik mittlerweile fest in der Hand des asiatischen Giganten.
Silvano Malini, Ciudad Nueva, Montevideo
USA: Mehr Zusammenarbeit
Die Frage nach der Rolle Chinas in den USA zeigt an sich schon, dass unsere Welt heute ein komplexes System geworden ist: Die Nationen sind wirtschaftlich, politisch und kulturell eng miteinander verwoben. Die chinesisch-amerikanischen Geschäftsbeziehungen haben zu neuen Technologien geführt, von denen beide Länder profitieren. Unabhängig davon hat aber Amerika Jobs an China verloren, seitdem Peking den Wert seiner Währung niedrig hält, damit seine Güter preisgünstig bleiben und so der Export angekurbelt wird.
Andererseits legen Chinas Politiker neuerdings wieder mehr Wert auf die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land, was Löhne und Lebensqualität verbessern kann. Jobs, die infolgedessen aus Fernost wieder in die USA zurückkehren, lassen künftig auf eine größere wirtschaftliche Ausgeglichenheit hoffen.
Politisch hat wahrscheinlich die USA am meisten zu verlieren, wenn Chinas Einfluss weltweit zunimmt. Weil sich die Interessen beider Nationen immer mehr überlappen, wird eine politische Zusammenarbeit immer bedeutsamer. Im Umgang mit Nordkorea hat China glaubwürdig gezeigt, dass es stabilisierend auf die Weltpolitik einwirken kann.
Die Olympischen Spiele in Peking haben den US-Amerikanern kulturell die Augen geöffnet, hat sich Chinas Gesellschaft doch stark und lebendig gezeigt. Peking unterstützt Konfuzianische Institute in den USA, die für Kulturprogramme in Schulen und Universitäten sorgen. Die Folge: Immer mehr Kinder in den USA lernen in der Schule Chinesisch; auch die Zahl der Studenten, die im jeweils anderen Land die Uni besuchen, hat zugenommen. Es sind diese Verbindungen, die den Weg zu mehr Verständnis und Zusammenarbeit bahnen können, um eine friedlichere und geeintere Welt zu schaffen.
Donald Mitchell, Living City, New York
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2012)
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